Vorname Jonas

von Thomas Heise

Regie und Buch: Thomas Heise
Aufnahmen: Hans Blache, Thomas Heise
Mitwirkende: Jonas Zuchowski, Ralf Zuchowski u. a.
Endfertigung AdK-Mischung: Rolf Haberlandt
Schnitt: Anette Gudra
Uraufführung: Akademie der Künste 20.09.1989
Ursendung: Berliner Rundfunk Januar 1990
Länge: 53‘30

Heises "Jonas" offenbart seltene Einblicke in den Behördenapparat der DDR. Es macht die Gewalttätigkeit eines Systems hörbar, in dem viele Gutes wollen – und dabei Furchtbares anrichten.

Die Geschichte von Jonas ist eine tragische. Das wird im Laufe von Heises Recherchen sehr schnell klar. Ein guter Schüler, schlau. Aber die Eltern alkoholkrank und mit der Fürsorge für Jonas und seinen Bruder überfordert. Statt Unterstützung zu erfahren, gerät Jonas in ein Disziplinierungssystem. Er kommt in ein schlecht funktionierendes Kinderheim, das später wegen Verwahrlosung der Kinder geschlossen wird. Dazwischen immer wieder zurück zu seinen suchtkranken Eltern. Er rebelliert gegen beides, verweigert die Arbeit für ein Jahr und bekommt dafür nach Paragraf 249 – dem so genannten Asozialenparagrafen – ein Jahr Haft. An dieser Stelle beginnt Heises Stück.

Thomas Heise über die Entstehung von „Vorname Jonas“

Heise bekommt Jonas vom zuständigen Staatsanwalt zugeteilt. Er will ein Stück für die Reihe „Tatbestand“ machen, in der reale Justizfälle für den DDR-Rundfunk abgehandelt werden. Es ist seine erste Arbeit für den DDR-Rundfunk, wir schreiben das Jahr 1983. Gerade ist er seinem Rausschmiss von der Filmhochschule zuvor gekommen und er sucht nach einer neuen Betätigungsmöglichkeit. Er wünscht sich einen „möglichst unspektakulären Fall“, weil ihm von vornherein klar ist, dass er nicht nur die Geschichte eines Protagonisten erzählen will. Sondern auch etwas über die Behörden, „das System“ – die Momente wo es funktioniert und nicht funktioniert. Ob Jonas jemals mit ihm reden wird, ist für Heise, als er mit seiner Arbeit beginnt, äußerst unklar. Er stürzt sich also auf dessen Umfeld – auch um im Notfall überhaupt eine Geschichte zu haben. Und macht das übliche: Rekonstruktion einer Biografie. Bis zum Punkt x. Der Punkt x ist die Entlassung von Jonas.

Heise will die Familie begleiten, wenn sie Jonas abholt, und wird Jonas dort zum ersten Mal treffen. Vorher schon spricht er mit den Eltern, mit dem Bruder, mit der Lehrerin. In Jonas´Akte findet er Namen und Adresse seiner Freundin und trifft auch sie. Lehrerin, Eltern und Freundin malen ein jeweils völlig unterschiedliches Bild von diesem Mann. Ein Element, dass auch dramaturgisch von Heise genutzt wird. „Wer wird da zurückkommen?“. Auf diese Frage gibt es bis zum Tag x keine Antwort. Die erste Frage der Eltern an Jonas lautet dann vor allem: Ob er vielleicht von unterwegs ein paar Bier mitbringt?

Die Geräuschebene ist rough, man kann auch sagen krude – aber damit nicht unpassend für den Stoff. Es dominieren: ein Ich-Erzähler, klar als Autor erkennbar, der den offenbar abgelesenen Text zügig und monoton herunterrattert. Hart geschnittene O-Töne. Die teils auch abrupt mittendrin enden. Und auf die oft eine kurze Stille folgt. Geräusche: Eine Gefängnistür. Immer wieder Regen (kein leichter Landregen, ein lautes Trommeln). Musik: Eine Collage aus den Beatles („Love me do“) und einem Pionierlied. Ein- zweimal ein kurzes Aufflackern eines Orchesters. Heise sagt später im Interiew, er wusste damals einfach nicht, wie man im Radio montiert. Hätte schlicht einen akustischen Trenner gebraucht und zum Regen gegriffen. Würde er heute vielleicht anders machen. Er habe auch nicht gewusst, was die anderen Autoren so machen in diesem Bereich, sagt Thomas Heise (Quelle Interview mit Thomas Heise am 23.4.2019 im Interview in der Akademie der Künste). Mag sein. Aber… natürlich greift Heise auf ästhetische Prinzipien zurück, auch wenn sie vielleicht nicht aus dem Rundfunk kommen. Für den Sprecherton orientiert er sich am Theater, Brecht, Müller, Fritz Marquardt. Bei der Geräuschebene, den Schnitten und Atmos helfen ihm kompositorische Prinzipien aus der Musik. Er sucht explizit nach rhytmischen Geräuschen (Regen), ein nicht identifizierbares, stampfendes Maschinengeräusch, mal ein abfahrendes Auto. Um eine Struktur zu schaffen und eine Bewegung. Ein Prinzip, das Heise auch in anderen Stücken anwendet. Das Fleischkombinat mit den Todesschreien der Tiere im Hintergrund bietet eine weitere prägnante Atmo, die allerdings nur als Begleitgeräusch in den jeweiligen O-Tönen vorkommt.
(Fußnote: In „Widerstand und Anpassung“, einem späteren Stück Heises, gibt es beispielsweise ebenfalls diese Geräuschebene, die das Stück voranbringen soll. Parallel zu Erwin Geschonnecks Erzählung aus dem KZ ist zu hören, wie im Hintergrund ein Güterzug Wagen für Wagen aneinander gekoppelt wird – und schließlich davon fährt. Auch hier mit dem Ziel der Rhytmisierung der Erzählung und einer klaren Bewegungsausrichtung.)

Thomas Heise über den Einsatz von Geräuschen.

Und zu Besonderheiten der Sprechweise.

Heise begleitet Jonas‘ „Wiedereingliederung“ nach dem Knast. Mit seinem Wunsch nach einer echten Perspektive für sein Leben eckt Jonas bei allen Institutionen an, die für seine Rückführung in Arbeit und ins Volkskollektiv zuständig sind. Schnell wird klar: Das wird nichts. Seine frühere Sachbearbeiterin bei der Jugendhilfe stellt fest: „Er hat unter den Zuständen zuhause gelitten. Aber er konnte die Eltern nicht ändern. Und am Ende ist er genau so geworden“. Nicht nur Jonas‘ Vater pendelt schließlich zwischen Knast und Verwahrlosung zuhause. Sondern jetzt auch Jonas. Und wie sich im Feature schon abzeichnet auch Jonas‘ jüngerer Bruder Ralf. Mit beiden bleibt Heise auch noch in Kontakt, als die Arbeit am Feature längst ruht. Seine Erzählung schließt Heise mit den Worten: „6 Jahre später ist Jonas das 4. Mal drin und Ralf nach dem Jugendwerkhof das 2. Mal draußen und Vater zweier Kinder.“ Damit ist so gut wie alles gesagt.

Das Feature kreist nicht um die Schuldfrage, hat nicht den Gestus einer Anklage. Es liefert seltene Einblicke in den bürokratischen Apparat der DDR. Der durch den Protagonisten Jonas hinterfragt und herausgefordert wird. Seine Selbstbehauptung, die vor allem in den Dialogen stattfindet, ist ein zentrales Element der Erzählung. Und eine Besonderheit der Features und Dokumentarfilme von Thomas Heise. Und so fängt er in einem lichten Moment ein Zitat von Jonas ein, das auch als Motto über dem gesamten Stück stehen könnte: „Was mich stört, ist dass die, bei denen alles gerade gelaufen ist, dass die mit Scheuklappen herumlaufen. Und sich gar nicht vorstellen können, dass andere Menschen etwas anderes denken oder wollen können.“
Ein grandioses Rundfunkdebüt also, auch dank der offenen Zugewandtheit und der z.T. abenteuerlichen Recherchen Heises. Das sein ursprüngliches Ziel, dem Autor eine zusätzliche Erwerbsmöglichkeit beim Rundfunk der DDR zu erschließen, leider komplett verfehlt hat. Es wurde mit dem Hinweis es sei „zu lang“ nicht zur Endfertigung freigegeben und erst 1990 in der Akademie der Künste uraufgeführt.

Heise über Beginn und Ende seiner Radiokarriere.

Als klar ist, dass die Produktion nicht fertiggestellt wird, klaut Heise die Bänder beim DDR-Rundfunk.

Wie alles weiterging: Heise über ein späteres Wiedersehen mit Jonas und seinem Bruder.

Gattungsfragen. Ist „Vorname Jonas“ nun ein Hörspiel oder ein Feature, Herr Heise?

Tanja Runow

Biografie

Thomas Heise, geboren 1955 in Berlin (DDR). Besuch der Allgemeinbildenden Polytechnischen Oberschule 1961-1971. Lehre zum Facharbeiter für Drucktechnik 1971-1973. 18 Monate Wehrdienst, NVA Luftstreitkräfte Peenemünde 1974-1975. Regieassistent im DEFA Studio für Spielfilme 1975-1978. Abitur an der Volkshochschule 1976-1978. Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen Potsdam Babelsberg 1978-1982 (abgebrochen im Ergebnis operativer Bearbeitung durch das MfS 1976-1988).
Seit 1982 freiberuflich Autor und Regisseur. Meisterschüler der Akademie der Künste 1987-1990 auf Initiative Heiner Müllers und Gerhard Scheumanns. Mitglied des Berliner Ensembles 1990-1997, fester Regiemitarbeiter Fritz Marquardts, div. eigene Inszenierungen. Seit 1997 wieder freiberuflich Autor und Regisseur für Film und Theater. Seit 2001 Mitglied der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg. Seit 2007 Professor für Film an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe

Ausgewählte Radioarbeiten

„Vorname Jonas“ 1983/1990 (53’30)
1983 nicht zur Endfertigung freigegeben.
Ursendung Januar 1990 im Berliner Rundfunk

„Widerstand und Anpassung – Überlebensstrategie“ 1987/1989 (54’00 bzw. 58’00)
Originaltonfeature für den Rundfunk der DDR, verboten bis Dezember 1989
Ursendung Dezember 1989 im Berliner Rundfunk

„Schweigendes Dorf“ 1985/1990/1992 (103’00)
(Szenarium für einen Dokumentarfilm, nicht zur Produktion freigegeben, als Theaterstück, dann als Hörspiel realisiert.) Rundfunkproduktion 1990 in eigener Regie an der Akademie der Künste (Ost). Ursendung Januar 1992 auf Deutschlandsender-Kultur

 

Stichwörter:

DDR; Erziehung; Kollektivzwang, Familie

 

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