Über uns

Wirklichkeit im Radio ist kein Featurekanon, sondern ein Streifzug durch die Geschichte eines Genres, der seine Möglichkeiten zeigen soll.

Wirklichkeit im Radio erkundet die Geschichte des dokumentarischen Erzählens im Radio. Dazu gehören Radiofeatures, Hördokus, O-Ton-Hörspiele, radiophone Dokumentationen, Hörfolgen und was es sonst an Bezeichnungen gibt für die sehr unterschiedlichen dokumentarischen Sendungen, die über die Jahrzehnte im deutschen Rundfunk liefen.

Entstanden ist das Projekt als Sendereihe bei der Featureredaktion von Deutschlandfunk Kultur. Unsere Seite verweist auf die dortigen Sendungsseiten und Audios. Hier begleiten und vertiefen wir die Reihe mit einzelnen Essays und einem Werkzeugkasten, der helfen soll, die verschiedenen Macharten zu vergleichen.

Zusammengestellt, diskutiert, beleuchtet und mit zahlreichen Essays und Gesprächen versehen wurden diese Hörstücke von uns: Tanja Runow, Marianne Weil, Ingo Kottkamp und Giuseppe Maio.

Foto: Markus Georg

„Hörst Du wieder ein Problemhörspiel?“ Sagt mein Freund wenn er in die Küche kommt. Sehr sehr oft hat er mich dort sitzen sehen, unterm Kopfhörer – unsere Recherchen haben gedauert. Und wissen Sie was? Er hat Recht!
Welche Abgründe haben wir in den letzten Jahren kollektiv durchschritten! Da wo es schön, wo es freundlich ist und sich das Leben von seiner Sonnenseite zeigt – da ist das Radio-Feature eher selten. Das habe ich in dieser Zeit gelernt.

Ich bin Literaturwissenschaftlerin. Mich interessiert, wie dokumentarische Formen im Radio Wirklichkeit erzählen. Und als dokumentarische Form im Radio gilt in der Regel das Feature. Das weder nachrichtlicher Beitrag noch Reportage – sondern tatsächlich eine erzählende Gattung ist. Im Grunde ist es der Wahnsinn: Stellen Sie sich vor, Sie wären ein Romancier – und müssten sich Ihr Personal nicht erfinden. Sie müssten es suchen. Und in echt zu den Leuten hingehen. Sie müssten sie überzeugen mitzumachen. Und dann damit umgehen, wie diese Menschen wirklich sind oder wie sie sich geben, wenn Sie dabei sind. Was sie sagen, wie sie´s sagen (und was sie Ihnen alles nicht sagen!). Da kann man jetzt mal die Literaturgeschichte durchgehen, wie das im Einzelfall so ausgegangen wäre…

Das Erzählen „mit fremden Stimmen“ habe ich das mal in einem anderen Aufsatz in Anlehnung an eine Erzähltheorie von Michail Bachtin genannt. Das ist doch ungeheuerlich! Und großartig. Ein Zweig des oralen Erzählens, nebenbei, der plötzlich alles wieder hervorholt, was in dieser Schriftkultur unter den Tisch fällt. Und als solcher noch viel zu wenig erforscht. Go ahead!

Moment, denken Sie jetzt höchstwahrscheinlich: Mit Fiktion, dem Fach des Romanciers, hat das doch überhaupt nichts zu tun! Stimmt. Und stimmt auch nicht. Denn hier geht es nicht in erster Linie darum, was das „Feature“ ausmacht. Hier geht es um „Wirklichkeit im Radio“. Vermutlich gibt es doch sehr unterschiedliche Wege, den Dingen auf den Grund zu gehen. Und ob die Grenze der Erkenntnis zwischen Fiktion und Dokumentation verläuft – das sei hier mal dahingestellt… Vor allem – und das ist mir das Entscheidende – geht es, meines Erachtens, gerade darum, erstmal so viele Türen aufzureissen wie nur möglich! Denn es ist über die letzten Jahrzehnte ein bisschen stickig geworden im Feature. Macharten, die sich wiederholen, Sujets, die übermäßig vertreten sind (an erster Stelle: Aufdeckung gesellschaftlicher Missstände; Portraits von Randgruppen und benachteiligten Personen; Reisen in exotische Länder und zu extremen Orten; Portraits berühmter Persönlichkeiten). Bestimmte Erzählweisen und Autoren haben das Genre dabei stark geprägt. Und offenbar auch eine Erwartungshaltung bei RedakteurInnen, AutorInnen und vielleicht auch beim Publikum geschaffen, die es zu erfüllen galt. Keine einfache Ausgangssituation für die anderen Stimmen, die anderen Erzählweisen, die es immer auch gegeben hat. (Auch hier sind es natürlich oft die Stimmen der AutorINNEN, die fehlen.)

Das ist einerseits erstaunlich. Wenn man bedenkt, wie es angefangen hat mit dem „Feature“. Der berühmte Aufsatz von Andersch „Versuch über das Feature“. Bis heute als Gründungsdokument angesehen. Und immer wieder nach Definitionen durchforstet. Die der Text genussvoll verweigert. Und damit schon Generationen von Rundfunkhistorikern in die Verzweiflung getrieben hat… Bestimmt mit Absicht! Für mich sind es jedenfalls die Entdeckungen dieser losen Enden gewesen, die es doch an verschiedensten Stellen gibt, und die mit den größten Reiz bei diesem Projekt ausgemacht haben. Diese Potenziale, die auf ihre Verwirklichung noch warten und nur erahnen lassen, welche Geschichten noch alle möglich sind.

Eine Besonderheit des dokumentarischen Erzählens im Radio muss hier noch erwähnt werden, weil sie in dem Zusammenhang bedeutsam ist: Dokumentarisches Erzählen gibt es ja tatäschlich nicht nur im Feature. Sondern seit den späten 1960er Jahren auch im so genannten „O-Tön-Hörspiel“. Viele Autoren auch unserer Reihe definieren ihre Arbeiten als „O-Ton-Hörspiele“. Sei es, weil sie den künstlerischen Anspruch ihrer Stücke betonen möchten oder sich in der Tradition bestimmter Autorenpersönlichkeiten sehen. Vielleicht auch weil es dort mehr Freiheiten gab, mehr Renomée und sowieso höhere Honorare. Viele haben aber auch nur eine vage Vorstellung von den Unterschieden, wie sich in unseren Interviews gezeigt hat. Um die Eigenheiten der organisatorisch-bürokratischen Bedingungen zu betrachten, unter denen dokumentarisches Erzählen im Radio entstanden und geformt worden ist, lohnt ein Blick auf benachbarte Metiers. Zum Beispiel den Dokumentarfilm. Niemand käme auf die Idee, bei diesem Stichwort nur an rein journalistische Reportagen (über gesellschaftliche Missstände!) zu denken. Beim Feature ist genau das aber oft der Fall. Mein Plädoyer geht dahin, die abgesteckten Reviere als historische Realitäten anzuerkennen. Aber darüber nicht aus dem Blick zu verlieren, worauf es eigentlich ankommt: Die Weiterentwicklung des dokumentarischen Erzählens im Radio.

Viele Anregungen dazu stecken in den Stücken und den Texten, die auf diesen Seiten versammelt sind. Und es freut mich ganz besonders, dass wir so viele wegweisende Arbeiten hier auch hörbar machen können. Der Großteil der Feature- und Hörspielproduktionen ist ja im Normalfall für die Allgemeinheit (die sie finanziert) kaum zugänglich. Sondern lagert tief in den Archiven der Rundfunkanstalten. Diese über viele Jahre durchwühlen zu können war ein großes Privileg und eine Freude. Wir haben nicht nur kollektiv in Abgründe geblickt und unsere Entdeckungen gefeiert in dieser Zeit. Sondern auch engagiert gestritten. Viele unterschiedliche Interessen und Zugänge finden sich also in dieser Auswahl und den begleitenden Essays.

Auch das „Problem-Hörspiel“ hat mich zugegeben oft berührt, beeindruckt und mir Dinge beigebracht, die ich nie erfahren hätte. Ich möchte es nicht missen! Und doch freue ich mich insgeheim und nun auch öffentlich auf ein breiteres Bild der „Wirklichkeit“ im Radio.

Tanja Runow

Tanja Runow, geboren 1977, ist Literaturwissenschaftlerin und hat ihr Studium 2007 mit einer erzähltheoretischen Arbeit zum Radio-Feature abgeschlossen („Von der Welt erzählen in vielen Stimmen. Polyphonie im deutschen Radio-Feature“). Seither arbeitet sie als freie Redakteurin, Moderatorin und Autorin v.a. für Deutschlandfunk und Deutschlandfunk Kultur und entwickelt u.a. neue Serienformate.

Foto: Lena Ganssmann

Dass wir uns durch die Archive schnüffeln sollten, hat mich begeistert, dass wir über unsere Funde diskutieren wollten, auch. Ich selbst war ziemlich ahnungslos. Wusste nicht, was ich finden wollte und war von der Fülle der Produktionen schockiert. Unmöglich das alles zu hören! Erst als wir uns einig wurden, dass wir wirklich keine Systematisierung oder Hierarchisierung wollten, beruhigte sich mein Hirn.

Ahnungslos hieß nicht vorurteilslos. Da gab es die am dunstigen Horizont der Feature-Geschichte hausenden Götter und Legenden. Davon wollten wir uns nicht dominieren lassen. Dazu kamen individuelle Vorurteile: Prägungen, Filter, Vorlieben und Abneigungen bei allen in unserer Viererbande. Manche Diskussionen führten in die Wüste. Manche haben mir die Ohren geöffnet.

Was ist hängen geblieben? Ja, es gab die vielen grauen Stunden vergangenen Wissens und früherer Meinungen. Was aber zählt, sind die anderen, die elektrisierenden Momente, in denen mich ein Stück packte. Selten war es allein das Thema. Eher ein Gestus, eine Szene, ein Klang, ein Rhythmus, manchmal auch ein krasser Schnitt. Erzählerische Intensität. Aber – ZACK – gleich machte ich die Erfahrung der schrecklichen Unzuverlässigkeit meines Gehörs: Wie begeistert habe ich mir notiert, bei welcher Minute die und die tolle Stelle kam, wie schrecklich war ich (oft) enttäuscht, wenn ich sie wieder hörte. Über Hören zu sprechen, ist schwer. Stimmen und Klänge sind flüchtig. Kaum sind sie da, schon wieder weg. Jeden Tag neu, in jedem Ohr anders.

Am Ende habe ich zwar mehr Ahnung, aber auch mehr Fragen als vorher.
Was ist das für ein sound, der heute aus unseren kleinen Geräten kommt?
Brauchen wir ein neues akustisches Vokabular?
Ist das Klangerlebnis ausgewandert in Installationen und Hörräume?
Wie reagieren wir auf die Wissensrevolution der letzten 10 Jahre?
Was wollen wir überhaupt noch wissen?
Kann man Wissen erzählen?
Sind die koketten Fakten-Verächter die Avantgarde?
Ist die These „Hauptsache-die-Geschichte-ist-gut“ eine Kapitulation?
Wieviel Fiktion verträgt eine Dokumentation?
Geht Erzählen überhaupt ohne Fiktion?
Wieviel Manipulation wollen wir?
Wieviel Authentifizierung brauchen wir?
Wieviel wollen wir von uns als Autor:innen zeigen?
Wieviel müssen wir von uns zeigen?
Welche Geschichte erzählen wir eigentlich?
Die unserer Protagonisten oder unsere eigene?
Wenn der Platz des dokumentarischen Erzählens auf dem weiten Spielfeld zwischen Klangkunst und Hörspiel liegt – ist das nicht ein schöner Platz? Vielleicht könnten wir mehr daraus machen!

Marianne Weil

Marianne Weil, 1947 geboren, liebt das Archiv, ist fasziniert von der sinnlichen Präsenz historisch entfernter Töne, schreibt und inszeniert Radio-Collagen und Radio-Features.

Hier spricht der Initiator: Die erste Idee zu dem Projekt kam auf, als ich mit meinem Job bei der Feature-Redaktion anfing. Ich fragte mich, wie gut ich mein Fach eigentlich kenne. Irgendwie wollte ich wissen, wie Feature eigentlich geht. Mir waren verschiedene Dinge aufgefallen. Dass es über Hörspiele viele Bücher gibt und über Features nur wenige, und diese wenigen sind meist Praxisratgeber.

Dass es trotz oder wahrscheinlich wegen des fehlenden öffentlichen Gesprächs über das Feature ziemlich hartnäckige Vorstellungen darüber gibt, wie so ein Feature zu sein hat. Zu allererst, so höre ich oft heraus, soll ein Feature ein Thema haben. Und dieses Thema wird behandelt, recherchiert, durchdekliniert, und zwar von einer Autorenfigur unter Verwendung zahlreicher O-Töne. Und so klingt sie dann auch oft, die „Königsdisziplin des Radios“: Erzählsprech und Faktensprech und O-Ton und Atmo und Musik abwechslungsreich und gefällig arrangiert, Dauer 55 Minuten. Ist das Feature? Soll das so sein? War das schon immer so?

Wahrscheinlich würde ich immer noch über diesen Fragen grübeln, wenn ich mit ihnen alleine geblieben wäre. Aber alles wurde anders, sobald wir ein vierköpfiges Team waren. Eine ständig wachsende Liste mit Stücken und Kommentaren entstand, es gab Wellen der Begeisterung, Täler der Stagnation und vor allem viele, viele Debatten. Welche Stücke sind gut, wo soll man suchen, wie das Feature von anderen Formen abgrenzen, was klingt auch nach vielen Jahren noch frisch und interessant oder hat uns gar mit dem zeitlichen Abstand heute etwas Neues zu sagen? Das hört jede und jeder anders, selbst bei uns vier Radio-Aficionados gab es riesige Unterschiede, die sich gut in unserer internen, mehrere hundert Seiten langen Liste nachlesen lassen. Und wie unterschiedlich die gefundenen Stücke waren, manche recht nah am oben beschriebenen Standard-Feature, manche wie Hörspiele, Studien, Protokolle, Klangreisen. Ich hielt mich immer an einen Satz von Günter Eich, den auch Ror Wolf gern zitiert hat:

„Ich bin froh, dass es für das Hörspiel noch keine Hamburgische Dramaturgie gibt, und ich fühle mich in diesem anarchischen Zustand, der Experimente weder fordert noch verbietet, recht wohl.“

Ja, Günter Eich wird dem „Hörspiel der Innerlichkeit“ zugerechnet, er ist überhaupt kein Featuremann und hat das Feature auch nicht gemeint. Aber wenn man den Satz nimmt und „Hörspiel“ durch „dokumentarische Form im Radio“ ersetzt, stimmt er einfach. Es kann keine bessere Prämisse geben für eine Form, die frei ist und frei bleiben will. Alle künstlerischen Register der dokumentarischen Form zu ziehen oder ganz schlicht zu bleiben oder zu entscheiden, dass hier die von anderen oft gewählte Machart genau die richtige ist, und dass anhand der Geschichte und anhand der Menschen, die sie erzählen – in diesem Raum hat Wirklichkeit im Radio eine Chance.

Genau, Wirklichkeit im Radio. Musste es dieser Titel sein? Geht‘s nicht auch eine Nummer kleiner? Das haben viele gesagt, und sie haben ja recht. „Wirklichkeit“ ist ein problematischer Begriff. Sie ist subjektiv, sie ist konstruiert, sie ist für jeden eine andere, dabei aber nicht beliebig, sie beherrscht mich und ich kann ihr nicht entgehen. Wirklichkeit ist ein Spannungsfeld, und Wirklichkeit im Radio ist ein nochmals potenziertes Ultra-Spannungsfeld. In diesen kleinen Kasten, der heute oft ein Smartphone ist und per Datenpaket statt Broadcast bestückt wird, soll Wirklichkeit hinein und zu den Lautsprechern wieder herauskommen? Das geht gar nicht UND jedes der Stücke, die wir in dieser Reihe hören, versucht genau das. Sie haben dabei keine Narrenfreiheit. Die Referenz muss stimmen. „Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen oder Ereignissen ist rein zufällig“ – darauf darf sich das Feature nicht berufen und das O-Ton Hörspiel auch nicht. Aber dass Fakten von Faktencheckern überprüft werden können, macht noch keine Wirklichkeit – hier gehen das Spiel und die Arbeit, der Spaß und die Fron erst los, die es braucht, um im Radio etwas zu schaffen, was mich beim Hören trifft und betrifft.

Wie furchtbar sich eine Hausgemeinschaft zerfleischt hat, die mit den schönsten Hoffnungen und besten Vorsätzen gestartet war; wie Juden im französischen Exil nach dem Zweiten Weltkrieg vegetiert haben, weil die Bürokratie ihnen trotz aller Lippenbekenntnisse die Unterstützung verweigert hat; wie absurd, fröhlich und verrückt der Frühling in Japan sein kann: das alles hat mich berührt, überrascht, informiert, belehrt, bereichert, bedrückt; es hat mir die Welt nähergebracht. Aber ich habe es nie als Thema gehört, abgelöst vom Sound und der Machart derer, die es hergestellt haben. Meine wichtigste Erkenntnis ist vielleicht trivial: es gibt keine neutrale Dokumentation. Wer ein Feature oder dokumentarisches Hörspiel macht, erzählt sich und seine Zeit mit.

Und wie geht jetzt Feature? Statt einer Antwort spreche ich die Einladung aus, auf dieser Seite zu hören, zu lesen und zu stöbern.

Ingo Kottkamp

Ingo Kottkamp, geboren 1972, arbeitet fürs Radio – in Wort, Schrift und Ton, als Autor, Regisseur, Produzent, Moderator. Seit 2007 ist er Featureredakteur bei Deutschlandfunk Kultur.

Im Feature ist nahezu alles möglich, sagte Robert Matejka, der ehemalige Redakteur im Künstlerischen Feature des Deutschlandfunk Kultur. Er hat vielen angehenden Autoren, auch mir, das Feature-Debut ermöglicht und sich von uns neue Impulse und Zugriffe auf das dokumentarische Material erhofft. Ich glaube, nichts langweilte ihn mehr als das Erwartbare.

Denn das Feature erwehrt sich seit Jahrzehnten erfolgreich einer festen Definition. Es ist ein Experimentierfeld geblieben, eine typenoffene Werkstatt, kein Material ist ihr fremd.

Die älteste Annäherung an eine Definition von Alfred Andersch klingt heute so fresh wie 1953: er erhob das Feature zur „Montage-Kunst par excellence“. Also kein Themen-Schwertransporter, eher ein Prozessor. Kein Gefäß, eher der Bunsenbrenner darunter, ein Material-Wandler.

Dass das Genre lebt, erkennt man daran, dass jede Generation ihre eigene Sprache, ihre Materialien und akustischen Tricks im Feature ausprobiert. Neben allem, was ein Feature erzählt, lagert sich dort auch immer der Spirit seiner Zeit ab.

Wie klingt das Portrait der ersten Jugendgeneration nach dem Zweiten Weltkrieg? Der Fall der Mauer wirft seine Schatten schon Jahre voraus, zum Beispiel in einer erstarrten Sprache, die im Feature der DDR schon festgehalten wurde. Was kommt heraus, wenn man Jugendlichen einfach ein Kassettengerät überlässt, wenn sie auf die Piste gehen? Wie lässt sich Gleichzeitigkeit dokumentarisch darstellen? Oder diese Portraits ohne jeden Promifaktor: Der Scherenschleifer, der Bananenverkäufer, die Bezirkskrankenschwester, der Wellensittich und die junge Frau in der Badewanne. Egal ob im Feature oder Originalton-Hörspiel: das Mikrofon schafft ihnen eine Bühne. Unvermeidlich und wie von selbst entsteht dabei immer auch ein Portrait des Autors und der Zeit, in der es verwurzelt ist.

Weswegen es eine absolute Herausforderung war, die schnellen Reflexe der eigenen Hörgewohnheiten in Zaum zu halten. Wenn man sich wirklich auf sie einlässt, auf die Pioniere des Features aus den 50er oder 60er Jahren, dann beginnt man regelrecht, anders zu atmen. Und kaum hat man sich eingehört in diesen manchmal etwas pastoral anmutenden Sonntagston, da wird man schon wieder überrascht, wie fragmentarisch und kleinteilig collagiert damals manchmal schon erzählt wurde. Ernst Schnabel hat die monoperspektivische Textwüste schon 1947 überwunden und erzählt (jongliert, möchte man fast sagen!) „mit fremden Stimmen“, wie Tanja es so treffend formuliert hat.

Mir hat unser Projekt gezeigt, dass man der Geschichte des Features mit dem beliebten Narrativ der „kontinuierlichen Entwicklung“ nicht wirklich beikommt. Denn das Feature ist Typensache. Mal lauter und mal leiser, treten bis heute immer wieder Autorinnen und Autoren neu auf die Bühne, die dem Genre mit einem gänzlich eigenen Aufschlag, mit einer radikal eigenen Erzähltechnik einen neuen Spin verpassen, neue Flugbahnen beschreiben. Sei es in der Art, wie sie ihr Material handhaben oder ihre Erzählstimme einsetzen; es sind immer einzelne, neue, mutige Stücke, die das Genre nach vorne aufsprengen, die das Repertoire des dokumentarischen Erzählens erweitern und Wege auftun, die im Gehen erst entstehen. Diese „Würfe“ gab es durch alle Jahrzehnte hindurch immer wieder. Und siehe da, wenn man sich lange genug durch die Archive hört, finden sich neben all den zurecht groß gefeierten „Meisterstücken“ dann auch andere Unikate und Perlen, die auf unerklärliche Weise in Vergessenheit geratenen waren und heute, 10, 20 oder 30 Jahre später auf ihre eigene Art etwas erzählen, was man so schnell nicht mehr vergisst. Und um diese Stücke ging es uns vielleicht in dieser hörenden Erforschung des Feldes.

Neben allem Erwartbaren sind uns so manche auf Tonband verewigte Sonderlinge begegnet. Quereinsteiger aus dem Film, der Literatur, One-Hit-Wonder-Autoren und jene, die beharrlich und über Jahrzehnte hinweg im Windschatten der Platzhirsche ihre eigene Form gefunden haben, aus ihrer Wirklichkeit zu erzählen.

Angefangen haben wir so: Um zu verstehen, auf welchen Sendeplätzen wann und wo die dokumentarische Langform überhaupt beheimatet war, haben wir zuerst die vergilbten HÖRZU-Radioprogramm-Hefte aus drei Jahrzehnten durchgeblättert, haben uns über Sendeschienen, Autoren- und Redakteurs-Namen einen Überblick verschafft, haben diese dann durch die Suchmaschinen der ARD-Archive gejagt und so manche Archivare mit unseren Anfragen an die öffentlich-rechtliche Belastungsgrenze gebracht. Wir haben mehr Stücke gehört, als das Jahr Tage hat. Alle Höreindrücke wurden protokolliert und die spannenderen Stücke vom gesamten Team gegengehört und diskutiert. Die besten Stücke wurden dann in immer heißere Kandidaten-Töpfe umgeschichtet und am Ende hatten wir eine Auswahl, die nach hinten immer noch offen und wahrscheinlich auf ewig vorläufig bleiben wird. Aber hier ist sie. Finalmente.

Aber Begeisterung allein hat uns nicht genügt. Alle vier sind wir selbst Feature“macher*innen“ und ich gebe zu, es bereitet geradezu Lust, die Machart und den Bausatz fremder Stücke bis in die Schrauben zu analysieren. Woraus genau und wie ist es gebaut? Was genau ist das Besondere an dem Stück? Was wissen wir über die Entstehungsgeschichte und den/die Autor*in? Womit ist es vergleichbar ? So entstand zu jedem Stück ein kleiner Essay und wo möglich, haben wir auch das Gespräch mit den Autor*innen gesucht und machen es hier hörbar.

Für mich bleiben, neben all diesen Fundstücken, vor allem unsere bis heute nicht endenden Debatten und Gespräche im WiR-Team das eigentlich Spannende an unserem Projekt: Gespräche unter Machern und Liebhabern über das Feature und seine wundersamen Blüten. Nach allen Seiten gehen dabei Türen auf – und für uns ist jetzt der nahezu feierliche Moment gekommen, dieses Gespräch nach außen, zu Euch und Ihnen zu öffnen.

Wir sind weit rumgekommen mit unseren Ohren und wünschen Gute Reisen!

Giuseppe Maio

Giuseppe Maio, geboren 1970, wechselt beständig zwischen Schreibtisch und Tonstudio. Arbeitet als Autor und Regisseur im Feature und Hörspiel der ARD und Deutschlandfunk Kultur.

Was wollten wir?

Wir wollten nicht die besten Features aller Zeiten, sondern ein Spektrum. Möglichst unterschiedliche Macharten aus möglichst unterschiedlichen Zeiten.

Gesucht haben wir im Korpus historischer Radiostücke seit 1945, die letzten 10-15 Jahre sind wegen des historischen Fokus unterrepräsentiert, es gab aber keine eindeutige Jahresgrenze. Die Stücke sollten mindestens 30 Minuten lang sein, sie sollten eindeutig dokumentarischen Charakter haben und dabei einen künstlerischen Gestaltungswillen zeigen. Wir sind Empfehlungen gefolgt, haben Leute befragt, uns einzelne Zeiträume, Redaktionen, Autorinnen und Autoren angeschaut, waren sehr viel in Archiven unterwegs und haben unsere Höreindrücke in einer ständig wachsenden Liste protokolliert. Immer war es wichtig, keine Museumsstücke, sondern heute noch relevante Stücke zu hören.

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