Seh ich so aus, als hätt ich Gnade?
Wenn ein Domina-Studio zum Medienthema wird, geht es meist um den Kitzel des Anrüchigen. Unsere Autorinnen wählten einen anderen Weg: Sie machten das Studio zum Teil ihres Alltags, sie lebten und sprachen sechs Monate lang mit zwei Frauen, die von ihrer Arbeit und ihren Kunden erzählen. Die Bilder kippen vom Rätselhaften ins Selbstverständliche, vom Gefährlichen ins Alberne, vom Traurigen ins Böse. „Seh ich so aus, als hätt ich Gnade?“ ist Teil unserer Reihe „Wirklichkeit im Radio“ zur Geschichte des Features.
Die Sendung enthält Inhalte, die als unsittlich empfunden werden könnten und die für Zuhörer unter 18 Jahren nicht geeignet sind.
Biographie
Irmgard Maenner, 1959 in Bayern geboren, lebt als Autorin in Berlin, schreibt Prosa, Hörspiele, Features. Zuletzt: „Teure Schwalben“ (Deutschlandfunk Kultur 2019).
Susann Sitzler, geboren 1970 in Basel, lebt als Autorin in Berlin. Porträts und Rundfunkfeatures. Zuletzt: „Soweit die Verse tragen“ (SR 2011).
Die Ratten von Paris
Was ist das bloß für ein Trip? Dunkelheit. Beunruhigende Geräusche. Das dünne, schrille Fiepsen der Ratten. Was sind das bloß für Typen? Von den Égoutiers, den Kanalarbeitern von Paris, hören wir Stimmen im O-Ton. Und dann verselbständigen sich ihre Geschichten; ein Jean-Claude erschlägt eine Ratte und will eine andere mit seiner Frau zuhause großziehen. Was ist das für ein verrückter Professor, der mit spitzer Diktion von der Vernichtung der Ratten fabuliert? Was ist das für ein Erzähler, der sich gar keine Mühe gibt, die Fäden zusammenzuhalten? „Weiß ja selber nicht, was ich hier suche“, murmelt er in der langen Szene, wo er in der Kanalisation den Ratten begegnet. Hängen Lautsprecher im Pariser Untergrund? Oder wo kommt die Stimme her, die Viktor Hugo zitiert und Kulturgeschichtliches über das Zusammenleben zwischen Mensch und Ratte erzählt? Was ist das bloß für ein Trip – zu den unsichtbaren, aber umso eindringlicher hörbaren Ratten von Paris?
Es klingt wie ein Hörspiel. Aber tragende Elemente dieses Radiostücks sind klassisches Feature. Wir hören viel Präzises und Recherchiertes über die Lebensweise der Ratten, über das Verhältnis von Mensch und Ratte durch die Jahrtausende, über die Entwicklung städtischer Hygiene und über den Beruf des Égoutiers. Der Pariser Kanalarbeiter hat es buchstäblich mit Scheiße zu tun hat, dafür aber bekommt er eine Menge Freizeitausgleich und hat durchaus eine Art Standesstolz entwickelt, weswegen es Dynastien von Égoutiers gibt, die bis ins Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Besonders hervorzuheben: die vielen Aufnahmen aus der Kanalisation von Paris, die die Geräusche und Atmos vieler solider Sachfeatures weit in den Schatten stellen.
Vermischung von Stilmitteln, die man in dieser Form selten zusammen hört: das macht dieses Feature besonders und das war das Gebot der Stunde in der Zeit und am Ort seiner Entstehung. Wir sind in den neunziger Jahren und der WDR ist auf Reformkurs. WDR Eins ist gerade zu 1LIVE geworden, und zusammen mit der Kulturwelle WDR 3 werden in der Stunde vor Mitternacht „Sound Stories“ gesendet, die das Verwischen der Genregrenzen zum Programm machen. Redakteurin Gisela Corves schildert diese Zeit als eine des Aufbruchs. Sie erzählt, dass es im WDR anders als beim SFB lange Zeit keine Featureredaktion gegeben habe. Lange Sendungen wurden von Fachredaktionen bestritten, mit allen dazugehörigen Vor- und Nachteilen: Seriosität, journalistische Gründlichkeit, im besten Fall intellektuelle Tiefe; dann aber auch ein etwas dröges, bisweilen blasiertes und sich als staatstragend gerierendes Auftreten. Für Experimente, auch solche mit O-Ton, war eher das Hörspiel zuständig. Nun gründet sich aber in den neunziger Jahren eine neue Abteilung, die Feature und Hörspiel zusammendenkt und mit der Popkultur der Zeit verbindet. Die Tradition des SFB-Features, die sie natürlich kannte, war dieser jungen Truppe aber kein Vorbild; der Star der Doku-Szene der Neunzigerjahre beim WDR war Walter Filz mit seinen hoch unterhaltsamen Feature-Dekonstruktionen. Man liebte es aber auch, Leute von außen hereinzuholen, und so gab eine Reportage des Schweizers Eric Bergkraut den Anlass für ein Sonderprojekt. Entgegen der üblichen Verfahrensweise beim Feature kam der Toningenieur, Benedikt Bitzenhofer, nicht erst im Studio dazu. Er reiste gemeinsam mit dem Autor nach Paris und verbrachte drei Tage in den Gängen und Schächten der Kanalisation von Paris. Und auch bei der Inszenierung wurde nicht gespart; Regisseur Hein Brühl machte es zu einer Leinwand-Produktion, die später oft wiederholt wurde. Was den Aufwand dieses Leuchtturmprojekts betrifft, gibt es also doch wieder eine Parallele zur SFB-Schule, denn viele der bekannten Features von Peter Leonhard Braun waren Sonderunternehmungen, für die ebenfalls ein Toningenieur in der Welt unterwegs war.
Soviel zur Entstehung. Aber jenseits von den Zeitläuften der Medien- und Sendergeschichte: welcher Logik folgt die Vermischung der Elemente, was erzählt sie über ihren Stoff und mit welcher Berechtigung tut sie es?
Dazu spulen wir noch mal zu Minute 4‘40, wo ausgesprochen wird, worum es in diesem Radiostück geht.
Genau betrachtet existiert Paris in zwei Ausführungen. Die labyrinthische Kanalanlagen entsprechen genau dem oberirdischen Straßennetz. Jede noch so kleine ruelle, jede Passage findet unten ihre Entsprechung. Dieselben blauen Emailschilder wie oben zeigen auch unten Straßennamen und Hausnummer an. Nur sind die unterirdischen Schilder meist von einer dicken Schicht aus Staub und Dreck überzogen.
Das ist eine reale Konstellation – Feature – und doch wirkt sie wie erfunden – Hörspiel. Was bedeutet sie für das Hörstück? Es geht um Ratten. Es geht um Paris. Und damit geht es – wie in den meisten, vielleicht allen Tierdokus – eigentlich um Menschen. Es geht, ganz real und faktisch, um den Beruf des Kanalarbeiters und das Zusammenleben von Mensch und Ratte. Und es geht um die psychische und metaphorische Dimension. Wer denkt bei den zwei Welten nicht an das Verdrängte und Unterbewusste? Oder an Hades- und Höllenvorstellungen. Mindestens ebenso wie um die Ratten selbst geht es um die Ängste, die sie bei Menschen auslösen. Daher auch manche Überzeichnungen, die einigen in unserem Hörteam effekthascherisch vorkamen. Aber liegt es nicht in der Natur der Angst, dass sie das Reale überzeichnet? Genau das nennt der Autor im Gespräch als seine Motivation für dieses Feature. ‚Ich habe als Schauspieler begonnen, in gewissem Sinne bleibt man das ja immer‘ sagt er und: ‚es hat mich gereizt, mich meinem Grusel zu stellen.‘ Und so werden Fakten und Projektionen, Tatsachen und Ängste zu Bestandteilen eines dokumentarischen Spiels. Bergkraut spielt die verschiedenen Konstellationen zwischen Mensch und Ratte durch. Vom Wahn der Ausrottung bis zur Utopie der Symbiose. Von der Zuschreibung der Ratte als unrein zur Reinlichkeit, die sich an ihnen beobachten lässt. Von der menschlichen Überheblichkeit im Tageslicht bis zur nächtlichen Vision, selbst wie die Ratten zu werden und die Last der Individualität von sich zu werfen. Er nimmt sich dabei einige Freiheiten. Aus dem Recherchematerial – Gespräche mit den Égoutiers und Lektüre einer historischen Monographie über den rattus norvegicus – formt er Figuren, nennt sie „Jean-Claude“ und „Professor Winkelhofer“ und gibt Ihnen ein eindeutig literarisches Eigenleben. Ein Hörspiel-Feature-Hybrid, aber mit voller Transparenz, denn nirgendwo wird versucht so zu tun, als sei es eindeutig und ausschließlich das jeweils eine oder andere. Zur Ober- und Unterwelt von Paris gesellt sich eine dritte Ebene: die Innenwelt des Autors, die aber auch unsere Innenwelt ist, denn wer ist schon gleichgültig gegenüber Ratten und wer kann sich ihren Lauten, die hier so ausgiebig zelebriert werden, entziehen?
Ingo Kottkamp
P.S.:
Das Tier im Feature kommt in dieser Reihe öfters vor. Der Wellensittich in „Mein Partner Hansipiepchen“ war gerade kein Partner, sondern hatte die Aufgabe, immer auf der Stufe des Kleinkindes zu bleiben. Und die Ratten von Paris stehen nie nur für sich selbst, sie sind immer das angstbesetzte Gegenüber. Ein Denkanstoß zum Schluss: Wird es einmal Features geben, in denen Tiere zu eigenständigen Protagonisten ermächtigt werden? Im utopischen Idealfall: Features von Tieren statt über sie?
Gespräch mit Eric Bergkraut im Jahr 2021
Über die Begegnung mit dem eigenen Grusel – stellvertretend für andere.
Über Begegnungen mit Ratten.
Über die Genrefrage und die Poetisierung des Alltags.
Über die Aufnahmen in der Pariser Kanalisation mit WDR-Toningenieur Benedikt Bitzenhofer.
Darüber, wie authentisch die Geschichten der Egoutiers sind.
Gespräch mit WDR-Redakteurin Gisela Corves im Jahr 2017
Über Hörspiel, Feature und Popkultur im WDR der 90er Jahre.
Über Quereinsteiger im Feature.
Biografie
Eric Bergkraut, geboren 1957 in Paris. Schauspieler, Regisseur, Autor und Filmemacher. Für seinen Film „Letter to Anna“ über die ermordete russische Journalistin Anna Politkovskaja wurde er mit dem Vaclav-Havel-Preis ausgezeichnet. Zuletzt: „Paradies möcht ich nicht: Roman einer Familie“ (2019). „Die Ratten von Paris“ sind seine einzige Arbeit fürs Radio.
Stichwörter:
Ratten; Stadt; Mensch und Tier
King George
Normalerweise begibt sich Gotthard Schmidt ins Zentrum seiner Geschichte, leuchtet ein Phänomen von innen aus, bleibt nicht im äußeren Ring als Betrachter stehen. Für seine erste große Radioarbeit 1968 schließt er sich einer sogenannten Drückerkolonne an, die mit Lügengeschichten und psychologischen Tricks von Haustür zu Haustür zieht, um Zeitschriftenabonnements zu verkaufen. Als er über das Ende des Kohlebergbaus schreiben will, zieht er tatsächlich in ein Häuschen der zum Abriss freigegebenen Bergmannssiedlung ein. Beim Thema Kneippkur unterzieht er sich einer Kaltwasserkur und trinkt Buttermilch, bevor er darüber schreibt. Ähnlich will er es auch bei seinem neuen Stück über die Rocker vom „King George“ machen, einer Kneipe am Stadtrand von Moers. Er will dazugehören – jedenfalls für eine gewisse Zeit, will die Gruppenhierarchie, die ungeschriebenen Gesetze kennenlernen, will von innen heraus schreiben, vom Zentrum her. Aber die Rocker verweigern ihm den Zutritt. „Ich habe mit ihnen gesprochen, ich habe mit ihnen Bier getrunken, ich habe mich von ihnen verprügeln lassen. Ich kann manches erklären, das meiste habe ich nicht verstanden, sie haben mich nicht reingelassen. Ich blieb ihnen fremd.“
Also schildert Gotthard Schmidt, was er sieht und hört, ohne Interviews, ohne szenische Aufnahmen in einem lakonischen Text. Wie die Rocker die Kneipe übernehmen, wie Maria hinter dem Tresen agiert, dass „Hühnchen“ nur 1 Meter 50 groß ist und die Mädchen über ihn lachen, dass fast alle eine Waffe haben und tätowierte Hakenkreuze, dass einer einen Automaten geknackt hat, zwei andere ins Kaufhaus eingebrochen sind, wie die Polizei in die Kneipe kommt, wie Klaus ins Gefängnis muss und die Kumpels ihn besuchen. Gotthard Schmidt schmückt nicht aus, fühlt sich nicht ein, interpretiert nicht. Er schreibt im Hemingway-Eisberg-Stil, bei dem die sprachliche Fassung ein Siebtel der Oberfläche abtastet, während im Auge der Betrachterin, beziehungsweise im Ohr des Hörers die unsichtbaren Sechssiebtel des Eisberges unter Wasser imaginiert werden: Bilder aus einer Rockerkneipe – das ist der Untertitel des Stücks.
Zum Beispiel gibt es eine hochdramatische Szene, die in Zeitlupe das Entstehen einer Schlägerei schildert – voller Gewalt, voller Spannung und Angst. Doch die Schlägerei findet nicht statt, wir hören sie nur kommen. Zwei Koreaner bestellen ein Bier, werden beschimpft: Itaker, Kameltreiber. Ein Bierdeckel fliegt ihnen an den Kopf, ein Bierglas fällt um. Ein 19-Jähriger, Hühnchen genannt, soll gackern, die Rocker stacheln ihn an. Die Szenerie ist akustisch aufgeladen. Aber von ein paar knackenden Automatengeräuschen abgesehen, ist weder etwas vom Lachen der Rocker noch vom gackernden Hühnchen zu hören, allein der Erzähler Uwe Friedrichsen zitiert das Gagaagagaaack, schildert, wie Hühnchen immer lauter wird, wie er langsam näher hüpft, die Koreaner in Bedrängnis bringt; wie die in Richtung Tresen flüchten, wie sich der Kreis schließt, wie schließlich das Lachen zum Brüllen wird, das Gackern zum Gekreische. Kurz bevor bei Minute 13’ die Koreaner hinter den Tresen springen, kommt eine Unterbrechung akustischer Art: das metallische Geräusch eines Spielautomaten. Ein Solo von fünf Sekunden. Wie ein Maschinengewehr. Am Ende der Szene, nachdem Maria alle rausgeschmissen hat, kommt das Knattern des Automaten noch einmal. Das ist keine Atmo – es geht ja gar nicht um Spielautomaten – das ist die akustische Analyse der geschilderten Situation in der Kneipe durch Peter Leonhard Braun, der in seiner neuen Rolle als Regisseur einen Text in eine akustische Erzählung verwandelt.
Braun hat gerne darüber gesprochen: Wie ihm von Anfang an klar war, dass er nicht das Gebrüll von Rockern oder Kneipenkrach haben wollte, sondern das Geräusch der schweren Motorradmaschinen. „Ich muss Gewalt gleich am Anfang der Sendung einführen“. Wie er dann zur Spinnerbrücke in Nikolassee fuhr, wo sich die Berliner Rocker immer trafen, wie er zusammen mit seinen Toningenieuren aufwendige Aufnahmen machte, vom Auto aus, vom Motorrad aus. Wie alles nicht reichte. Wie er die Motorräder schließlich in den großen Sendesaal des SFB fahren ließ – „die ganze Bühne war mit dreißig Motorrädern voll“ – wie er als Dirigent von dreißig Motorrädern agierte und schließlich mit den empfindlichen für die Berliner Philharmoniker aufgebauten Mikrofonen die Motorengeräusche aufnahm. „Ich stand also unten, ich glaube der einzige und der erste Mensch, der ein Motorradorchester dirigiert hat. Ich hab mich vorne hingestellt, bin nicht auf Gewalt gegangen, sondern hab gesagt, mit besänftigenden Bewegungen: langsam anlassen – roar roar roar roar – also ein rollendes wunderbares Knurren von wunderbarer Schönheit. Und dann habe ich die rechte Gruppe zu einem kleinen Crescendo gebracht, wieder gedämpft, und dann die linke Gruppe – und meine Rocker auf den Motorrädern waren begeistert. Am Schluss, ich habe immer die Sprache im Kopf, die ich mit diesen dreißig Motorrädern verbinden muss, muss ich das dämpfen, drücke sie langsam runter in ein rooooarrr Ding, und dann wird abgeschaltet, die Maschinen werden kalt, klick klick klick, das hab ich alles mit dieser Sinfonie-Orchester-Aufhängung drauf.“
Das ist kein realistischer Einsatz von Geräuschen. Es sind ja auch gar nicht die Rocker vom „King George“ in Moers, sondern Rocker aus Berlin, und die Motorräder fahren nicht in die Kneipe wie in Gotthards Geschichte, sondern ins Berliner Funkhaus. Es ist auch nicht so, dass da einer am Automaten gespielt hat, während Hühnchen die Koreaner umkreiste. Sowohl diese eher leise Atmo als auch das markante Geknatter der Flipper und die Motorräder der Rocker sind in quasi klinischer Reinheit aufgenommen worden, nicht in ihrem „natürlichen“ Umfeld. Es sind Kunstgeräusche. Kunstprodukte.
Peter Leonhard Braun setzt Geräusche wie Instrumente ein. Er nimmt sie auch wie Instrumente auf: „Sie können nicht einfach einen Automaten aufnehmen. Wir sind in die Spielhallen gegangen, wo die stehn, das ist zu laut. Wir sind in eine Reparaturwerkstatt gegangen und ich habe selbst die Flipper geworfen, also ich habe meinen Text im Ohr, diesen spröden Text und werfe jetzt einen Ball – kick kick – und nehm ihn wieder raus. Das heißt, ich lege mir ein Vokabular an Flippergeräuschen an und diese habe ich alle extra und schieße sie wenn der Text läuft mit der Musik zusammen in diesen Text rein, und dadurch spricht das.“ Auch die am ehesten atmosphärisch eingesetzte Musicbox wurde im großen Sendesaal in der Mitte postiert: „so zwanzigste Reihe“. Dann „hab ich sie mit den Sinfoniemikrofonen aufgenommen, habe aber das mittlere Mikrofon weggelassen. Da kommt dann später die Stimme rein.“ Eine für uns heute gängige Stereo-Aufnahmetechnik, die aber im Jahr 1976 neu war.
Ein weiteres Beispiel dafür, dass die akustischen Mittel immer wieder aus ihrer illustrierenden oder phrasierenden Rolle ausbrechen und die lead voice übernehmen: Bei Minute 28’ geht eine lange Kneipennacht mit Weinbrand, Waffen und SA-Liedern zu Ende. Die Vögel zwitschern. Schon die Länge des Zwitscherns ist ein klangliches Statement, das in dieser Zeit meist nur im Hörspiel, selten im Feature riskiert wurde. Die Vögel singen also, aber schon gleich pfeifen die Rocker sich zum Abschied zu, ein Rhythmus entsteht, den es so zu keinem Zeitpunkt in der Wirklichkeit gegeben hat, dann kommen die schweren Maschinen dazu, die ja im Funkhaus aufgenommen wurden und die sich jetzt rhythmisch mit den Vogelstimmen und den Rockerpfiffen verbinden: Erzählende Klangkunst.
Im „King George“ verbindet sich auf glückliche Weise ein lakonischer Text über die Outcasts vom Stadtrand – voller Gewalt, voller Wut, ohne Perspektive – mit einer innovativen Inszenierung, bei der Geräusche nicht realistisch, sondern kompositorisch eingesetzt werden.
Marianne Weil
Aus unserem kollektiven Hörprotokoll
Bei mir hat der Sog nicht so richtig eingesetzt
Das kann aber auch an der Besetzungspersonalie Uwe Friedrichsen gelegen haben. Der geht mir einfach richtig auf den Senkel. Ich dachte auch sofort: Klar, der konnte da nicht aufnehmen ohne im Krankenhaus zu landen und sie haben das nicht vertuscht sondern sehr konsquent das beste draus gemacht. Was ich hier finde (wie bei vielen Stücken von Braun als Autor/Regisseur) ist eine in sich sehr schlüssige Umsetzung, ästhetisch klar und eigen und ein sehr starker Erzähler. Aber ich denke beim Hören immer wieder: Nein, mit Dir möchte ich in KEINE Kneipe gehen! Auch wenn Du Dich noch so oft verprügeln lässt, Du harter Hund …
Keine Empathie
Ein Hörspiel-Feature. Das Erlebte und Gesehene kondensiert zu starken Bildern und Szenen, mit hörspielartig eingesetzten Atmos ungeheuer effektiv inszeniert. Es ist ein in sich geschlossenes und schlüssiges Stück, das auch heute seinen Eindruck nicht verfehlt. Höre gerade in anderem Zusammenhang Hubert Fichtes „St. Pauli Interviews“, und die geben einen Eindruck davon, was diesem Stück und vielleicht der ganzen klassischen SFB-Schule fehlt: Empathie, Interesse, Anteilnahme. Da interessiert sich jemand für die Geschichte der Menschen jenseits der Szenen, in denen sie anzutreffen sind. Ob das im O-Ton oder in der der Nacherzählung geschieht, finde ich gar nicht so entscheidend.
Gespräch mit Peter Leonhard Braun im Mai 2018
Motorräder im Großen Sendesaal
Gotthard Schmidt war ein Einzelwesen, ein abgeschlossenes Wesen, einer der also nun in der King-George-Kneipe wochenlang sitzt und nicht dazugehört. Und ich habe also den Gotthard Schmidt gebeten, das zu schreiben – ein außerordentlich lapidarer, lakonischer, sehr starker Text, der sich überhaupt nicht für irgendeine Akustifizierung eignet. Also haben wir das mal probiert. Wie? Erstens, ich muss Gewalt gleich am Anfang der Sendung einführen. Ich fahre also damals zur Spinnerbrücke – das ist am Nikolassee, wo die vielen Motorräder stehen und bringe eine Gruppe von 30-40 schweren Motorrädern dazu, mir zu folgen. Ich habe in meinem Wagen meinen Toningenieur sitzen, neben dem offenen Fenster, und die rasen also an mir vorbei und hinterher, er nimmt also auf, was sich vollzieht – wir stellen hinterher fest, das funktioniert nicht, wir müssen noch Mal fahren, mit dem Motorrad. Wind war für uns kein Problem, wir arbeiteten mit Riesenwindschützern, die wir um die Mikrofone machten. Und die Motorräder wurden richtig dirigiert, nahe und gefährlich an uns vorbeizufahren – wir hatten also die Gewalt. Wo haben Sie das aufgenommen? Na auf der Avus! Auf der Avus! Ich im Autor, um mich ein Schwarm Motorräder. Ohne Absperrung.
Und dann sind wir hier ins Haus gefahren, die sind dann durch diese engen Korridore gefahren – und jetzt kommt der Knaller: Ich brauche, um Gewalt, um Motorräder mit Sprache zu verknüpfen brauche ich eine Akustik, die überhaupt nicht besser vorstellbar ist. Ich brauche einen Riesenraum, damit die Motorräder sich in diesen Raum verbreiten können, ich brauche also unsere Konzerthalle. Und ich bin also in unsere Konzerthalle an einem Sonntag, sie war leer, es war alles improvisiert, mit dreißig Motorrädern – großer Sendesaal? großer Sendesaal! – die ganze Bühne war mit dreißig Motorrädern voll, alles still – die Aufhängung für Sinfonieorchester hing – und nun hatten wir folgendes Problem: eine Rauchmelderanlage ist drin. Und wenn etwas zu viel Qualm hochgeht, beginnt das zu regnen und dann ist die Bestuhlung hin. Wir hatten aber fanatische Toningenieure, die oben saßen und einer war oben in der Rauchmelderanlage, und ich stand also unten, ich glaube der einzige und vielleicht der erste Mensch, der ein Motorradorchester dirigiert hat. Ich hab mich also vorne hingestellt, bin nicht auf Gewalt gegangen, sondern hab gesagt, mit besänftigenden Bewegungen: langsam anlassen – roar roar roar roar – also ein rollendes Knurren von wunderbarer Schönheit. Und dann habe ich die rechte Gruppe zu einem kleinen Crescendo gebracht und wieder gedämpft und dann die linke Gruppe – und meine Rocker auf den Motorrädern waren begeistert, die sagten hinterher: das glaubt mir keiner was ich hier heute gemacht habe – und jetzt kommts, am Schluss: ich habe immer die Sprache im Kopf, die ich mit diesen dreißig Motorrädern verbinden muss, muss ich das dämpfen, drücke sie langsam runter in ein rooooarrr Ding, und dann wird abgeschaltet und dann kommt folgendes: die Maschinen werden kalt, klick klick klick, das hab ich alles mit dieser Sinfonie-Orchester-Aufhängung drauf, ohne Sprinkleranlage.
Ein Vokabular an Flippergeräuschen
Oder die Automaten! Sie können nicht einfach einen Automaten aufnehmen. Wir sind also in die Spielhallen gegangen, wo die stehn, das ist zu laut – wir sind in eine Reparaturwerkstatt gegangen, und ich habe selbst die Flipper geworfen, also ich habe meinen Text im Ohr, diesen spröden Text und werfe jetzt einen Ball – kick kick – und nehm ihn wieder raus. Das heißt, ich lege mir ein Vokabular an Flippergeräuschen an und diese habe ich alle extra und schieße sie, wenn der Text läuft mit der Musik zusammen in diesen Text rein, und dadurch spricht das. Sehr schwer zu machen aus folgendem Grund: Erstens musst du eine Stimme haben, die mit Motorrädern konkurrieren kann – Uwe Friedrichsen – das heißt, der muss Tiefe haben aber auch eine bestimmte Helle, die sich dagegen durchsetzt. Sonst ist eine dunkle Stimme wien Korken auf einem Wasserfall, der da oben rumhoppst und du hörst das nicht. Und Friedrichsen musste auch auf eine bestimmte Art und Weise sprechen, dass ich eine Chance habe, das zu vereinen. Das ist das eine. Das zweite ist: Die verwendete Musicbox kann ich nicht so nehmen wie sie ist, sondern ich muss sie in einen Riesenraum bringen, damit sie ganz ungefähr wird. Da hab ich also die Musicbox in die große Konzerhalle bringen lassen und habe sie in die Mitte gestellt, so zwanzigste Reihe, und spielte dort mit voller Power, dann hab ich sie über die Sinfoniemikrofone aufgenommen und habe aber das mittlere Mikrofon weggelassen. Da kommt dann später die Stimme rein.
Biografie
Gotthard Schmidt, 1943 geboren in Eisenach, 2014 gestorben in Moers, war Journalist, Feature-Autor, Übersetzer, Bearbeiter und Hörfunkregisseur. Seine Familie – der Vater war Pfarrer – ging nach Kriegsende aus der damaligen Ostzone in den Westen. In Essen machte Gotthard Schmidt Abitur, studierte erst Theologie, dann Germanistik und ging vor dem Abschluss als Freier Mitarbeiter zur Westdeutschen Allgemeinen Zeitung nach Moers. Nach einem Praktikum 1967 beim Hessischen Rundfunk schrieb er seine erste Radiosendung über Drückerkolonnen. In den 1970ern ging er Westberlin und schrieb mehrere Features für den SFB. Ende der 1980er kehrte er nach Moers zurück. Typisch für die Feature-Arbeiten von Gotthard Schmidt ist das intensive Eintauchen in das Milieu seiner Stoffe. Ob er sich selbst einer Kneippkur unterzieht oder in eine zum Abriss vorgesehene Berarbeiter-Siedlung einzieht – er will von innen heraus schreiben, nicht als distanzierter Betrachter.
Ausgewählte Stücke
„Betrogene Betrüger“, HR 1968
„In der Kolonie, Bilder aus einer ehemaligen Bergmannssiedlung“, HR 1974
„King George, Bilder aus einer Rockerkneipe“, SFB/NDR/SR 1976
„Am besten suchen Sie sich einen neuen Beruf. Erfahrungen mit österreichischen Wassergüssen nach der Art des Pfarrers Sebastian Kneipp“, SFB 1979
„Tote Fische“, SFB 1984
„In vielerlei Hinsicht das letzte Woodstock-Festival“, SFB 1992
„Stundenbuch des Todes. Ein anatomischer Bericht“, BR 1998
Stichwörter: