Bonga Boys

Dieses Feature vollbringt das Kunststück, gleichzeitig empathisch und völlig schonungslos zu sein. Von Anbeginn fliegt einem ein völlig neuer Sound um die Ohren, der in dem Unerhörten der erzählten Geschichte(n) seine Entsprechung findet.
Erzählt werden die Legenden, an denen jede und jeder der Protagonisten mitspinnt, weil man das eigene Scheitern oder mindestens Straucheln in der Diaspora nicht eingestehen will und kann. Vor sich selbst oder vor der Familie, die daheim auf positive Nachrichten und auf Geld wartet.
Das gesamte, riesige Konstrukt aus Halb- und Unwahrheiten, aus Stories, Schicksalen, Abhängigkeiten wird von einem einzigen Punkt aus entfaltet: Einem äthiopischen Freund der Autorin, der in Köln lebt. Von hier aus geht es in die USA, nach Äthiopien, nach Saudi-Arabien und immer wieder auch zurück nach Köln. Das ist aufregend, auch akustisch, denn die Gleichzeitigkeit des Hier-wie-dort-Seins, das Hin und Her zwischen den Welten bildet sich auch klanglich ab. Der Sound der globalen Glückssucher ist vielsprachig, immer etwas zu laut, bisweilen scheppernd und treibt das Geschehen unermüdlich voran. Auch dank schneller Schnitte und des energiestrotzenden Soundtracks, der das utopische Potenzial des Pop über einer Story entfaltet, die auch als bleischweres Sozialdrama hätte enden können.
Ein neuer Tonfall, der sich auch bei der Autorin findet, die ihren Protagonisten immer zugewandt bleibt und trotzdem kein Blatt vor den Mund nimmt.

2010 wurde „Bonga Boys“ mit dem Deutschen Radiopreis in der Kategorie „Beste Recherche“ ausgezeichnet. Das Feature ist das Ergebnis einer Langzeitrecherche, die über fünf Jahre gedauert und 150 Stunden Material hervorgebracht hat. Die Intensität des Stücks ist sicher auch auf diese extreme Verdichtung der Erzählung zurückzuführen.

Tanja Runow

Biographie

Martina Schulte hat eine Zeit lang vor allem Features gemacht, mittlerweile erzählt sie in vielen unterschiedlichen Formaten, unter anderem für Deutschlandfunk Nova, den WDR oder auf Videoplattformen wie Vimeo: Visuell und akustisch, online und offline. „Die Feature-Welt war mir auf Dauer zu eng“ sagt sie. Und „auch als Moderatorin kann ich Geschichten erzählen“. „Storyteller und Internetexpertin“ ist dann auch ihre selbstgewählte Berufsbezeichnung.

Ausgewählte Radiostücke

2006 Nach Hause telefonieren: Call Shop Stories
WDR/DLR/RBB/SR

2009. Bonga Boys.
WDR/RBB/NDR/SWR 2009

2014. Deutschland in Kleinanzeigen.
Redaktion: Thomas Nachtigall / WDR/SWR/RBB/DLF 2014

 

Stichwörter:

Migration; Arbeitswelt; Globalisierung; Äthiopien

 

Hörbild über den Kamienna-Prozess in Leipzig

Eine helle Männerstimme, das Gegenteil von schneidig, eher weich, fast singend, beginnt die Sendung mit dem Namen des Ortes „Kamienna“ und dem Satz: „Ich habe bis vor einigen Wochen diesen Ort noch nicht einmal dem Namen nach gekannt und so wird es den meisten unter Ihnen ebenfalls gehen.“ Ein typischer Satz für Peter von Zahn, der eindeutig „ICH“ sagt, aber an strategischen Stellen rhetorisch auf die Seite seiner Zuhörer wechselt und das ICH zum WIR erweitert. Die zweite Herstellung dieser Art von WIR bei 2’12 schließt auch die Opfer ein, eine delikate Gruppenbildung, denn die Opfer waren vor allem Juden, zu denen die Deutschen über 12 Jahre lang eine maximale Distanz aufgebaut hatten: „Wenn Sie und ich unter diesen Arbeitern gewesen wären und man hätte uns heimlich gefragt, was seid ihr? so hätten wir heimlich geantwortet: Sklaven.“ Schließlich integriert er sogar die Täter, indem er sagt: „Und zu ihrem Unglück, aber auch zu unserem Unglück waren es Deutsche, welche den polnischen und jüdischen Sklaven zu Aufsehern und Meistern gesetzt waren.“

Wie Brückenpfeiler zieht sich dieses rhetorische WIR durch den Bericht. Es dient nicht nur dazu, die Aufmerksamkeit der Zuhörer zu gewinnen und ihre Abwehr zu überwinden. Gegen Ende (bei Minute 16’10’’) übernimmt es auch die Aufgabe, den Wahrheitsgehalt der berichteten Ereignisse zu bezeugen und Authentizität herzustellen. Nach der Einspielung einer Zeugenaussage, die die massenhafte Erschießung von Menschen in einer Grube im Wald geschildert hat, sagt die Stimme am Mikrofon: „Es ist nur vier Jahre her und es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass solches vor sich ging. Denn viele von uns haben es an vielen Stellen gesehen, ich selbst könnte die fürchterliche Wahrheit solcher Szenen beschwören.“

Peter von Zahn zeigt sich nicht schockiert angesichts der brutalen Verbrechen, er spricht nicht von Schuld oder Verantwortung. Damit folgt er dem Rezept der Adenauerrepublik, die den Krieg als Ausnahmezustand sah und die Mitwirkung an Verbrechen als dunkle Seite der menschlichen Existenz abspaltete. Das Gift der Selbsterkenntnis verabreicht Peter von Zahn seinen Zuhörern in winziger Dosis. Er sagt nicht „Die Mörder sind unter uns“ wie der 1946 herausgekommene DEFA-Spielfilm von Wolfgang Staudte, aber er verweist in milder Freundlichkeit auf genau diesen Tatbestand. Er sagt, die Täter waren keine Monster: „Es waren keine sozial Deklassierten, keine entlassenen Sittlichkeitsverbrecher, sondern Dutzendfiguren, Normalbürger auf den ersten Blick, die für ihre Rüstungsfirma das Letzte aus den jüdischen Sklaven herauspeitschten. Leute, die sich in Leipzig, wo sie zu Hause waren, sicher gesittet und höflich benahmen, in Polen aber aufführten als gälte es zu beweisen, dass niemand grausamer ist als der Mensch zum Menschen.“

Journalisten aus den Westzonen waren im Gerichtssaal nicht zugelassen. Peter von Zahn verwendet in seinem Beitrag Mitschnitte des Rundfunks der Ostzone: Interviews und O-Töne aus Leipzig. Das war keineswegs selbstverständlich zum Zeitpunkt des Berichts Anfang 1949. Ein biografisches Detail mag da eine Rolle gespielt haben: Peter von Zahns Schwester ebenso wie ihr Ehemann waren Kommunisten und lebten in der Ostzone – die DDR existierte noch nicht, sie wurde im Oktober 1949 gegründet.

Marianne Weil

Biografie

Peter von Zahn, geboren am 29. Januar 1913 in Chemnitz, starb am 26. Juli 2001 in Hamburg. Er wuchs als Sohn eines Offiziers in Dresden auf, studierte Jura, Geschichte und Zeitungswissenschaften und promovierte 1939 in Freiburg/Breisgau. Im Zweiten Weltkrieg war er Kriegsberichterstatter in einer Propagandakompanie der Wehrmacht, ab 1942 im Einsatz an der Ostfront. Nach wenigen Wochen britischer Gefangenschaft in Holstein, wo er schon als Dolmetscher fungierte, ging Peter von Zahn 1945 in das unzerstörte Hamburger Funkhaus an der Rothenbaumchaussee, das die britische Militärregierung übernommen hatte. Die Briten suchten deutsche Mitarbeiter. Beide Seiten wurden sich schnell einig. Dabei spielten neben den journalistischen Fähigkeiten Peter von Zahns auch seine Sprachkenntnisse eine Rolle – er sprach Englisch und Russisch. Dass seine Vergangenheit in einer Propagandakompagnie an der Ostfront kein Hinderungsgrund für die Einstellung war, mag verwundern. Aber Peter von Zahn war nie Mitglied der NSDAP. Und, was vielleicht noch wichtiger für die Briten war, er war seit 1939 mit Christa Ayscough aus Schottland verheiratet, die mit der Familie Stauffenberg befreundet war und nach dem Attentat auf Hitler, obwohl nicht an der Verschwörung beteiligt, zeitweise im Gefängnis saß.

Nach einer Sicherheitsüberprüfung im Juli 1945 übertrugen die Briten dem gerade ins Zivilleben entlassenen Offizier der feindlichen Propagandakompanie die Abteilung „talks and features“.

Die Engländer wollten in Deutschland einen demokratischen Rundfunk nach dem Vorbild der BBC aufbauen mit einem breiten Spektrum an politischen Ansichten, mit glasklarer Trennung von Information und Meinung und ohne den Einfluss von Politik und Parteien. Männer wie Peter von Zahn, Axel Eggebrecht, Peter Bamm und Ernst Schnabel gehörten zu den Pionieren des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR), der damals das heutige Sendegebiet von WDR und NDR umfasste. Sie führten Interviews, schrieben Kommentare und Hörspiele, diskutierten an Runden Tischen und entwickelten auch eine neue Sendeform, deren Vorbild in England „Feature“ hieß. Der deutsche Vorläufer trägt den Namen Hörbild. Lange Zeit war diese Bezeichnung in süddeutschen Radiosendern vorherrschend, während der Begriff Feature mehr im Nordwesten üblich war.

Drei lange Feature über das Ruhrgebiet schrieb Peter von Zahn, die 1949 in der Reihe rororo des Rowohlt-Verlags unter dem Titel „Die schwarze Sphinx“ gedruckt wurden. 1948 ging Peter von Zahn als Leiter des NWDR-Studios nach Düsseldorf, von wo er regelmäßige Berichte „Von Rhein und Ruhr“ sendete. 1951 wurde er Auslandskorrespondent in Washington. 1961 gründete er die erste private Produktionsfirma „Windrose“, die Berichte aus dem Ausland für das deutsche Fernsehen lieferte, ein Vorläufer der späteren Magazine „Weltspiegel“ oder „Auslandsjournal“.

Ergänzendes Material

Peter von Zahns Definition von Feature:

„Ich war Leiter der Abteilung ‚Talks and Features’ und wusste anfangs noch nicht einmal, was mit ‚Features’ gemeint war. Für englische Journalisten ist das ein fest umrissener Begriff. Wir versuchten ihn mit ‚Hörfolge’ zu übersetzen, gaben das aber auf, als wir merkten, dass Feature ein Korb ist, in den man alles packen kann, was nicht gerade aktuelle Nachricht oder Kommentar ist. Wir entwickelten das Feature zu einer eigenen Kunstform. Wenn ich in späterer Zeit seine Naturgesetzte erklären wollte, legte ich eine Schallplatte auf und spielte die ersten zehn Minuten der Matthäus-Passion von Bach. Erzähler, Chor, Solisten im Monolog und Dialog, musikalische Zwischenspiele, Reportagen und lyrische Betrachtung – alles deutet darauf hin, dass Passionen, Motetten und Oratorien des Barock das Feature auf vollendete Weise vorweggenommen haben.“
(Peter von Zahn, Stimme der ersten Stunde. Erinnerungen, Stuttgart 1991, p261. Als O-Ton in “Feature ist Feature” von Frank Olbert, DLF 1995).

 

Ausgewählte Radiostücke

„Hier ist London – Anatomie einer Weltstadt“ (NWDR 1948)

„Hörbild über den Kamiena-Prozess in Leipzig“ (NWDR 1949)

„Von nah und fern. Beschreibung einer Reise durch das Ruhrgebiet der Nachkriegszeit“ (NWDR 1951)

„Großer Strom und kleine Schleusen. Hörfolge über den St. Lorenz-Strom“ (NDR 1956)

 

Stichwörter:

Zwangsarbeit; StrafprozessNationalsozialismus

 

 

Ende der Anfrage

Eine Zeitungsmeldung von einer SS-“Mörderschule“ im österreichischen Schloss Hartheim veranlasst den Autor, vor Ort nach Spuren der Verbrechen und nach Nachwirkungen in der Gesinnung der Bevölkerung zu suchen. Fündig wird er schon vor der Ankunft: von der Schalterbeamtin an der Bahn, die vor dem „Pack“ der Gastarbeiter im Zug warnt, über die Reisenden der ersten Klasse in eben diesem Zug mit ihrem reaktionären Gerede bis zu den Familien in den Wohnungen, die heute in dem ehemaligen Euthanasie- und Exekutionslager leben – alle dumpf, ausweichend im Hinblick auf die Vergangenheit, reaktionär. Alle Rand- und Nebenfiguren erzählen unfreiwillig von dem Thema der Reise.

Der Autor hat kein Mikrofon dabei und er gibt vor, Nachforschungen über seinem Bruder, der dort bei der SS gewesen sein soll, anzustellen – denn er will das Vertrauen der Leute gewinnen und sie dazu bringen, sich durch ihr Reden selbst zu entlarven. Sprechen lässt er sie dann in nachgestellten Studioszenen von einem großen Ensemble von Dialektsprechern in Kleinstrollen. Das hört sich heute kurios an, ist aber gar nicht schlecht gemacht. Ein frühes Beispiel für Undercover-Journalismus also.

Die Produktion, die tatsächlich 1965 beim damaligen Südwestfunk stattgefunden hatte, wurde vom Programmdirektor Günter Gaus kurzfristig abgesetzt. Auf dem Band, das wohlverwahrt im Archiv steht, ist folgendes Vorwort zu hören:

„[…] In ,Ende der Anfrage‘ werden die Erfahrungen einer Reise beschrieben, die der Autor auf eine Agenturmeldung hin nach Oberösterreich machte. Die Gespräche, die er wiedergibt, haben stattgefunden.“ […]
Der Journalist Günter Gaus wurde hellhörig bei der Beteuerung, daß die wiedergegebenen Gespräche stattgefunden hätten, daß der Bericht auf Tatsachen beruhe. Warum bekam er dann aber keine O-Töne zu hören, sondern Hörspiel-Dialoge […]. Für die journalistische Todsünde, statt wörtlicher Zitate den authentischen, identifizierbaren Zeitgenossen realistische Dialoge in den Mund gelegt zu haben, gab es keine Absolution.
Der damalige SWF-Hörspielredakteur Hermann Naber, zitiert nach:
Jan Decker: Ahlers und die anderen. Christian Geisslers Hörspielwerk. 2016. S. 17.
Der Text enthält auf S. 16-18 eine lesenswerte Besprechung von “Ende der Anfrage”: Ahlers und die anderen

Der Autor zieht fundamentale Konsequenzen aus dem Verhalten der Leute. Nicht der Nationalsozialismus hat die Leute verdorben, sagt er, die Verdorbenheit ist tiefer und älter.

Die Publikationsgeschichte von „Ende der Anfrage“ ist kompliziert, beauftragt wurde es als Reportage von der Zeitschrift Stern, aber nicht gedruckt, produziert für den SWF, aber nicht gesendet, dann als Text gedruckt in den „Werkheften katholischer Laien“, später in seinem Sammelband „Plage gegen den Stein“ und schließlich 1966 nochmals inszeniert für das Fernsehen der DDR. Insofern ist „Ende der Anfrage“ ein Außenseiter im bundesdeutschen Feature und eher Beleg dafür, was Feature noch hätte sein können. Zugleich faszinieren die feinen, sprechenden Beobachtungen: pars pro toto sei eine der Familien genannt, die jetzt im Schloss wohnt. Auf die Frage, was hier im Krieg gewesen sei, bekommt der Autor die Tür zugeschlagen. Hätte er sie auf die Sternsingerzeichen am Hauseingang angesprochen, hätte er sicher eine weniger abweisende Reaktion bekommen. „Gute Kenntnis von magischen Zeichen und schlechte Kenntnis von der Realität“ kommentiert der ehemalige Katholik Geissler. Haltung, Beobachtung, Sprache – alles Tugenden eines guten Features, und über allem steht die Dringlichkeit, die das Stück bis heute ausstrahlt.

Es sei aber auch nicht verhehlt, dass das Stück in mir eine Rezeptionshaltung auslöst, die ich im ersten Moment bleierne Schwere nenne – bis eine meiner Mitstreiterinnen fragt, ob ich damit das Stück nicht abwerte. ‘Bleiern’ – ich habe unbewusst auf den Filmtitel von Margarathe von Trotta angespielt, der seinerseits auf ein Hölderlinzitat zurückgeht und die Enge, die Ungelöstheit, das klaustrophobische Schweigen in den 50er Jahren meint. Das passt perfekt: eben diese bleierne Zeit ist der Gegenstand des Features. Und das Gefühl, ihr notfalls mit radikalem Mitteln entkommen zu müssen, teilt sich im Titel mit: Ende der Anfrage, auf dem bisherigen Weg kommen wir nicht weiter. Bleiern ist also das Sujet – aber auch die Haltung des Autors ist das Gegenteil von leichtgewichtig oder konziliant. Er macht keine Anstrengungen, seine Haltung pädagogisch zu vermitteln. Sein Widerstand gegen falsche Idyllen spiegelt sich – ganz anders als noch bei Peter von Zahn – in einem unversöhnlichen Ton. Auch auf akustische Zutaten, die das Stück irgendwie gefällig oder verdaulich machen könnten, wird verzichtet. Vor allem aber: Geissler ahnt, ja weiß eigentlich schon bei Antritt der Reise, was er vorfinden wird. Und es bestätigt sich dann auch, es gibt keine überraschende Wende, die Schlinge zieht sich immer weiter zu, es wird immer noch weiter verdrängt, reaktionär geredet, verschwiegen; der Erzählbogen besteht darin, dass das anfangs Vermutete sich in immer neuen Details bestätigt. Da hat sich etwas festgefahren, und das steht dem heutigen Trend nach Spannungsdramaturgie und überraschenden Wendungen entgegen. “Ende der Anfrage” ist auch insofern wörtlich zu nehmen, als Geissler danach keine Features mehr gemacht hat und sich ganz dem Hörspiel und darin zunehmend dem poetisch-verrätselten Wortspiel zuwandte. Vielleicht fand er hier eine Möglichkeit, den politischen Ernst zu behalten und trotzdem der bleiernen Schwere zu entkommen.

Ingo Kottkamp

Biografie

Christian Geissler, 1928-2008, Schriftsteller, Hörspielautor, Dokumentarfilmer, Kommunist. Geboren in Hamburg, der Vater Nationalsozialist, der im 2. Weltkrieg fiel, die Mutter aus Polen. 1949 bis 1953 Studium der evangelischen Theologie, 1953 Konversion zum Katholizismus, 1962 Austritt aus der Kirche, 1962-1968 Mitglied im Kuratorium der Kampagne für Abrüstung und Ostermarsch, 1967-68 Mitglied der KPD bis zu deren Umwandlung in die DKP, 1973 im Hamburger Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD, in den 80er Jahren der antiimperialistischen Linken nahestehend. Diese Stationen sind Ausdruck eines lebenslangen Engagements, das von seinem künstlerischen Schaffen untrennbar war. Immer ging es um die Frage nach der Verantwortung für Verbrechen und Möglichkeiten des Widerstandes, oft entzündet an, aber nicht beschränkt auf die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten. Zur Kritik an bestehenden Verhältnissen gehörte auch die Kritik an der bestehenden Sprache, die sich in einem zunehmend experimentellen Werk niederschlug.
Mehr über Christian Geissler in dieser ausführlichen Biographie.

Ausgewählte Radiostücke

„Eine alte Frau geht nach Hause“, Funkerzählung, WDR 1956
„Die Kinder von Gallatin“ Hörspiel, WDR 1957
„Jahrestag eines Mordes“ Hörspiel, SWF 1968
„Verständigungsschwierigkeiten“ Hörspiel, SWF 1969
„Unser Boot nach Bir Ould Brini“ Hörspiel, SWF 1993
„Taxi Trancoso“, Hörspiel, SWF 1993
„Walkman Weiß Arschloch Eins A – Hörspiel aus meinem Dorf“, SWF 1994
„Wanderwörter“, Hörspiel, SWR 2001
„Ohren Aufbohren. Monolog der Schurkenfrau“, Hörspiel, SWR 2011

 

Stichwörter:

Nationalsozialismus; Euthanasie; Verdrängung

Wer hat Angst vor dem Milchmann

Was genau Theo Galler in seinem Feature dokumentieren will, ist nicht klar zu fassen. Am ehesten ließe sich sagen: er dokumentiert eine Reise durch die Bundesrepublik im Herbst 1977. Ohne genaues Reiseziel verschlägt es ihn von Nord nach Süd und querfeldein durch die sogenannte deutsche „Provinz“. Er besucht Hundezüchter und Waffenverkäufer, Hausfrauen und Kneipengänger, macht zufällige Bekanntschaften auf der Straße und bei Beerdigungen und immer dabei ist das Mikrofon, das sich weder für Namen noch Berufe interessiert, sondern allein auf die Sprache, die Befindlichkeit des Augenblicks abzielt.

Angestoßen wird die Reise jedoch von außen: durch einen – nie im O-Ton zu hörenden – „kanadischen Freund“, der angeblich einen Tag nach Hans Martin Schleyers Entführung durch die R.A.F. für Recherchen nach Deutschland kommt, diese aber nach nur wenigen Wochen „verbittert“ und  „überstürzt“ abbricht. Nicht jedoch, ohne uns in einem offensichtlich nachgestellten O-Ton mit norddeutschem Akzent gesprochenen Satz eine Nachricht auf englisch zu hinterlassen: „You don’t have to fear a fascistoid regime, you are having it already.“

Ausgestattet mit diesem spin setzt der Autor Theo Gallehr die abrupt abgebrochene Mikrofon-Recherche seines (fiktiven?) Freundes fort.

Es ist der Instinkt des Reporters und Dokumentarfilmers, der Theo Gallehr in diesen historischen Tagen, in den vibrierenden Wochen zwischen Entführung und Ermordung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, ausschwärmen lässt, die Gesellschaft auf ihre politische Fieberkurve hin zu untersuchen. Das Mikrofon wird hier zum Thermometer. Es zeichnet weit mehr auf, als nur das gesprochene Wort. Es dokumentiert Töne der Angst und der Irritation. Angst vor Terrorismus auf der einen und Angst vor dem repressiven Polizeistaat auf der anderen Seite. Blanker Hass und Wut schlägt ihm auf der Straße entgegen, repressive Gewaltphantasien gegen die RAF-Mitglieder ebenso wie den paranoid erscheinenden Wahn ihrer Sympathisanten. Und immer hält der Autor das Mikrofon in beide Lager. Dabei aber sucht Gallehr stets die Stimme des Einzelnen, lässt, auch am Stammtisch, nur den Einzelnen zu Wort kommen und kontrastiert dessen Bilder und Sprechweise mit der (manchmal nüchternen, manchmal sehr tendenziösen) Schlagzeilen-Sprache der meinungsbildenden Medien der Zeit. Die öffentliche und die private Sprache einer Gesellschaft im Ausnahmezustand. Auch das Radio-Medium selbst mischt in diesem Spiel kräftig mit und setzt die Schlagwörter, die sich dann im Originalton, in den „persönlichen Meinungen“ vermündlicht wiederfinden. Hier vollzieht der Autor Medienkritik via Montage: Wenn zum Beispiel bei Minute 9 aus dem Autoradio „…die bewundernswerte Mischung von Härte und Beharrlichkeit, von Augenmaß und Kaltblütigkeit“ auf Staatsseite gepriesen wird und schon im darauf folgenden Originalton ein schwäbischer Bürger seine entfesselte Folterphantasie, wenn nicht an den Terroristen selbst, so doch wenigstens verbal ins Mikrofon knarzen darf. – Gallehr fragt nicht nach Ursache und Wirkung, sondern dokumentiert schlichtweg die Dynamisierung eines Diskurses.

Uns, den Feature-Autoren, zeigt es exemplarisch, was geschieht, wenn wir unsere Komfort-Zone verlassen und mittels Interviews und zufälligen Gesprächen einen weiten Horizont an Haltungen aufmachen, mitunter (politischen) Positionen eine Stimme geben, die unseren persönlichen und dem common sense der politischen Korrektheit vielleicht konträr entgegenstehen. Die heute diskutierte Frage, ob man „mit Rechten reden“ solle, beantwortete Theo Gallehr mit diesem Stück ganz klar: mit ja. Sollen undemokratische, extremistische Positionen und zu Gewalt anstiftende Ressentiments öffentlich (-rechtlichen) Raum erhalten? Darf man das? Muss man das? Diese Frage hat seinerzeit der verantwortliche Sender Radio Bremen ebenfalls mit Ja beantwortet.

Aber wie hält man das aus? Als AutorIn, als HörerIn? Das schadenfrohe, mitunter blutrünstige Stammtisch-Gelächter, die herbei gewünschten Erschießungskommandos, die Diskussionen, ob den Staat eine Rechtssprechung durch den Strick günstiger kommt, als durch Gas? Wie hält man solche drastischen Positionen aus, als öffentlich-rechtlicher Sender, als Gesellschaft? Solche Stimmen im eigenen Stück? Haben wir uns gefragt. Konnten wir den Autor Theo Gallehr leider nicht mehr fragen, denn er ist bereits im Jahre 2001 verstorben.

Sein langjähriger Kollege und Freund, der Filmregisseur Rolf Schübel, beschreibt Theo Gallehr als einen Dokumentaristen ohne Berührungsängste, der anhand der „dialektischen Montage“ eine eigene Methode entwickelt habe, extremen Positionen zu reflektieren.

Aus unserem kollektiven Hörprotokoll:

Gallehr gelingt, hier Stillstand und Brodeln zugleich zu dokumentieren, den alten Kampf der Kräfte: die Besonnenen und die Hysteriker, die Beobachter und die Brachialen.

Und die Parallele zu unserer Zeit ist bedrückend.

Endlich mal ein aktuelles Stück! Wenn auch fast 40 Jahre alt. Mir ging es sofort unter die Haut und ich hatte hohen Puls, als ich die Stammtische hörte.

die Aktualität, die Abgründe, die in den O-Tönen aufscheinen, die absolut stimmige Form des Roadmovies

Dann aber auch die kritisch hinterfragenden Stimmen der Kollegen:

Bin fassungslos, wie offen die Stammtische ihre Gewaltfantasien äußern. Aber auch, wenn ich das bekannte Statement der Terroristen wieder höre über die klägliche Existenz Schleyers, dessen Tod bedeutungslos sei – was für ein furchtbarer Panzer aus Ideologie, den sich diese Weltverbesserer angelegt haben.

Die „Polarisierung der Gesellschaft“ mache auch „vor den Journalisten nicht halt. Und finde es deshalb relevant, weil dadurch Erkenntnismöglichkeiten verloren gehen.

Wir fanden keine befriedigende Antwort auf die Frage, ob nun eben „der persönliche Ansatz eine Stärke des Stücks“ sei oder ob wir uns mit dem Autor wieder nur im Bereich des Erwartbaren bewegen, also nicht als unabhängiger Beobachter und Chronist, sondern als Akteur in einem politischen Polarisierungskampf.

Theo Gallers dokumentarische Arbeit stellt die Frage nach der Rolle des Autors im Feature. Ob man den objektiven, unverwickelten, also neutralen Erzähler überhaupt einfordern kann. Ob in einem Medium, in dem gesprochene Sprache zum „Material“ wird, in einem Genre, das mit Schnitt und Collage arbeitet, in dem der Autor regelmäßig, je intensiver er recherchiert und aufgenommen hat, zu immer weiterer Reduktion genötigt ist, ob unter solchen Küchenbedingungen also, überhaupt die heilige Objektivität des Journalismus angemahnt werden kann.

Ein auf der Straße befragter Bürger moniert, es gebe “heute nur noch entweder/oder” und damit verbunden die Aufforderung zum Bekenntnis. Gallehr hingegen entzieht sich dieser diskursiven Zwangsjacke und erhält sich in seiner Autorenschaft, am Schneidetisch sozusagen, eine dritte, eine beobachtende und letztlich erzählerische Position. „Wer hat Angst vor dem Milchmann“ wurde vor 40 Jahren urgesendet und spätestens heute kann man mit Gewissheit sagen, dass das vom Autor formulierte Grundanliegen des Stückes, „mündliche Geschichte“ zu schaffen, geglückt ist.

Giuseppe Maio

 

Gespräch mit Filmemacher Rolf Schübel, langjähriger Freund und Weggefährte von Theo Gallehr

 

Über cinema verité

Über dialektische Montage

Über Haltung im politischen Film

Biographisches zu Theo Gallehr

Biografie

Geboren am 15.07.1929 in Lehr.
Gestorben am 2. September 2001 in Hamburg.Theo Gallehr war Kneipenwirt in München und bis 1962 Fernseh-Regisseur beim Bayerischen Rundfunk.
 
Lernte Rolf Schübel kennen, der sein Regie-Assistent wurde. Später arbeiteten sie als ‚Cinecollectiv‘ zusammen. 
Zu ihren gemeinsamen Dokumentarfilmen für den WDR und NDR gehören beispielsweise „Der deutsche Kleinstädter“ (1968) und „Rote Fahnen sieht man besser“ (1970/71); beide Filme wurden mit dem Adolf Grimme-Preis ausgezeichnet. Dieser Film war gewissermaßen der Auftakt für ein neues Filmgenre in der Bundesrepublik, den sogenannten „Arbeiterfilm“.
 
1971 und 1972 erhielten Theo Gallehr und Rolf Schübel den Preis der Deutschen Filmkritik (FIPRESCI).

Ausgewählte Radiostücke

„Wunschkost“ (SR 1998)
„Das Pferd, das den Karren zieht
“ (NDR 1974)
„Der Eine war der andere, und der andere war keiner
“ (NDR/SFB 1977)

 

Stichwörter:

RAF, Terrorismus, Deutscher Herbst

 

 

 

Es stand ein Haus in Ostberlin

 

Trouvaillen, Florilegien und explosive Funde

Im Frühjahr des Jahres 2002 wurde im Podewilschen Palais ein Schatz gehoben. Zwei staubige Koffer voller Tonbänder. Alle im folgenden zu hörenden Tondokumente, Musiken und Geräusche stammen aus dem erwähnten zwei Koffern.

Radiomenschen lieben solche Funde. Und sie machen Sendungen daraus. Auf den Reiz der Patina, den alte Tondokumente angesetzt haben, können sie sich verlassen. Sehr viele dieser Archivstücke werden präsentiert wie ein klingender Blumenstrauß, liebevoll zusammengebunden und mit einem Augenzwinkern überreicht. Es gibt aber auch die ‚harten‘, investigativen Varianten. Bei den „Stammheim-Bändern“ etwa lässt man das Augenzwinkern weg. Die Originalaufnahmen aus dem Prozess gegen RAF-Mitglieder werden als scoop präsentiert. Und bei einem anderen Feature dieser Reihe (Unser Vater, der du bist in der Hölle) werden die Tonkassetten eines Sektenführers in die Geschichte der letzten Tage dieser Sekte integriert. Die Tonlage, mit dem der Inhalt eines Fundes präsentiert wird, kann also sehr unterschiedlich sein. Und wie bei allen Featureformen ist der Gestus des Erzählers Teil der Geschichte.

Und wie ist es bei Frieder Butzmann und dem Koffer der jungen Talente?

Da wird der Koffer angesungen! Mit einer (lustigen? ironischen? verheerenden?) Version von „The House of the Rising Sun“. Hell, süddeutsch und unverfroren poltert Frieder Butzmann samt Gitarrenbegleitung ins Geschehen. Manche horchen da auf, andere schalten ab. Wir aber … nehmen uns erst mal Zeit, die Koffer, die Genese des Stücks und seine Machart genauer anzuschauen. Auf den Gesang kommen wir noch zurück.

Frieder Butzmann, Musiker, Westberliner Szenefigur seit den Achtzigern, Teil der „Genialen Dilettanten“, Monteur, Collageur, „Krachmacheur“, ein einschlägig bekannter ‚Typ‘, der immer noch wie frisch und unbedarft aus dem Badischen hereingeschneit wirkt und gleichwohl mit Avantgardegrößen wie Genesis P-Orridge oder Alexander Hacke gearbeitet hat Frieder Butzmann bekam den Hinweis auf den Koffer von Elke Moltrecht, verdienter langjähriger Kuratorin vor allem von experimenteller Musik; zuvor hatte sie im thüringischen Bad Köstritz das Heinrich-Schütz-Haus mit aufgebaut. Sie, die DDR-Sozialisierte, kannte den Wessi Frieder Butzmann von vielen gemeinsamen Veranstaltungen, vor allem im Podewil, dem Haus, in dem sie arbeitete und das zuvor, von 1954-1991, das Haus der Jungen Talente beherbergt hatte: eben das FDJ-Zentrum für Jugendkultur, um das es sich in diesem Hörstück dreht.

Es gab also ein Umfeld, in dem das Feature entstand. Der Koffer war nicht von einer Investigativredaktion aufgespürt und sichergestellt worden. Er hatte sich geöffnet innerhalb einer Vertrauenskonstellation, zwischen Leuten, die einander und ihre Kunst kannten und die wussten, was sie voneinander erwarten konnten. Der Witz dabei: hier wurde einer, der einer Subkultur zugerechnet wurde, aber längst auch etablierte Kanäle wie die universitäre Lehre und den öffentlich-rechtlichen Rundfunk bespielte, auf das Archiv einer staatlichen Einrichtung angesetzt, betrieben von offiziellen kulturpolitischen Stellen der DDR, das aber jetzt, 14 Jahre nach dem Ende der DDR, seinerseits wie eine Subkuktur wirkte. Und dann war es auch noch einer, der dezidiert für Westberlin stand.

Wie findet West Ost?

Dürfen Cis-Menschen über Trans-Menschen schreiben, weiße Männer über schwarze Frauen, Privilegierte über Marginalisierte – und umgekehrt? 1998 war die Debatte noch weit von ihrer heutigen Schärfe entfernt, aber es gab schon den „Besserwessi“. Und den um diesen Begriff kreisenden Diskurs: was weißt du, West-Sozialisierter, denn schon über den Osten, was erlaubst du dir, oberflächlich und dann auch noch urteilend darüber zu reden, am besten noch mit dem unausgesprochenen Triumph im Unterton, dass ihr ja gewonnen hättet? Der Vorwurf ist oft berechtigt. Unzählige Male haben sich Westler bei Ost-Themen im Ton vergriffen, haben Vorurteile reproduziert oder Sachverhalte ignoriert. Weil das so ist, gibt es inzwischen eine Palette von Maßnahmen. Sensibilisierungstrainings. Faktenchecks. Kontroll- und Beratungsinstanzen. Und manchmal auch die Entscheidung: X ist zu ‚biassed’, um über Y veröffentlichen zu dürfen. Frieder Butzmann aber stürzt sich mit voller Chuzpe in das Unternehmen. Und wie geht er mit den Tonbändern aus dem Osten um? Er sagt es im Prolog.

Wie viele Schnitte sind erlaubt oder: ‚Ich will das Material hören‘

Keine Aufnahme wurde manipuliert, lediglich durch unzählige Schnitte in 55 Minuten gegeneinander gesetzt und teilweise rhythmisiert. Der Autor will eine gewisse Sympathie für das Leben in dem Haus nicht verstecken, und er weiß um – aber fürchtet nicht – das Pathos der Sprache, die Leere des großen Wortes sowie die doppelten Böden und emotionalen Fallen.

Auch wenn die Soundmontagen sich öfter exzentrisch anhören – der Erzähltext ist in keiner Weise verklausuliert, man möchte ihn bald treuherzig nennen. Dieser Erzähler ist ziemlich präsent. Insgesamt zehn Mal meldet er sich in verschiedenen Formen, auf die wir noch zu sprechen kommen, zu Wort.
Anfangs liegt er sein Verfahren und seine Haltung offen, fast wie in einem Disclaimer. Auch im weiteren Verlauf ist der Erzähler keinesfalls anarchisch oder ausgeflippt. Er organisiert, strukturiert und benennt sein Material fast wie in einem Uni-Referat: chronologisch nach Jahrzehnten von den Fünfzigern bis zur Wende, unter Erwähnung von wichtigen Einrichtungen des Hauses (vom Keramikkurs bis zum Computerclub) sowie markanter Ereignisse der Haus- und Zeitgeschichte: der Start der Sputnik-Rakete in den Fünfzigern; das FDJ-Liederfestival seit 1970, bekannt als „Woodstock des Ostens“; die Gründung des Omnibus-Chors 1975 und ein „Talentwettbewerb der Bezirke“ in den Siebzigern; der Mauerfall 1989. Deutlich sind also die Rahmungen, auch Absicherungen, die der Erzähler setzt. Hätte man den Erzählertext nur geschrieben vor sich, würde er sich stellenweise so lesen, als habe das Haus der Talente selbst einen fleißigen Jungpionier beauftragt, eine Geschichte des Hauses samt Toneinspielungen zu verfassen.
Dieser Eindruck dreht sich um 180 Grad in dem Moment, wo man die akustische Inszenierung hört. Butzmann greift tief in die Trickkiste der Collage-, und Montagetechniken, die das Hörspiel seit Ende der sechziger Jahre (mit Vorläufern in anderen Künsten und dem berühmten Pionierwerk „Weekend“) ausgebildet hat. Er rafft Schnipsel typischer Redeweisen zusammen, macht sie kenntlich und zeigt, wie viele alte Zöpfe, große Worte, leere Versprechungen, Anmaßungen, Autoritäten, Hierarchien, falsche Ansprüche und hohles Pathos die „jungen Talente“ permanent zu hören bekamen. Das Lehrmeisterliche dieser Dauerermahnungen durch die Partei zeigt sich auch daran, wie viele alte Menschen zu hören sind, vor allem alte Männer. Er benutzt sein Material, um anderes Material zu kommentieren. Noch recht konventionell mit SciFi-artigen Klängen, die auch auf den Bändern zu finden waren, um den „Computerclub“ zu unterlegen und ein Soundscape vergangener Zukunftseuphorie zu erstellen (ab 26’50). Drastischer dann in der Passage, die Frieder Butzmann selbst als „Spartakus-Barock“ bezeichnet. Ein kurzes Paukenmotiv wird geloopt und zu einem bombastisch-martialischem Rhythmus aufgepumpt. Darüber setzt er Splitter des Parteiliedes „Vorwärts und nicht vergessen“ (ab 33’30). Die Miefigkeit des Staatsapparates und des DDR-Funktionärswesens tritt so in einen Kontrast mit ihrem permanenten revolutionären Pathos.

Ich hab dafür einen Begriff: Spartakus-Barock. 1919 wurde da ‘ne Republik ausgerufen. In einem Haus mit wilhelminischen Barock. Und automatisch wurde das zum Spartakis-Barock. Eben dieses kämpferische „Auf, Genossen!“, aber eigentlich rein ornamental.

Diese Passagen, in denen Butzmann sozusagen den Collage-Turbo aufdreht, stehen in Kontrast mit zwei Stellen, die lange und ungeschnitten bleiben und von denen man den Eindruck hat, Butzmann stimme ihnen zu oder halte sie mindesten für bedenkenswert. Einer ist ein Veteran des kommunistischen Widerstands im Dritten Reich, der daran erinnert, aus welcher Vorgeschichte heraus das revolutionäre Pathos zustande kam. Der andere ist Stefan Heym (der Name fällt aber nicht); er spricht das Schlusswort und den Abgesang auf die DDR (51‘05-52’41).

In dem Moment, wo sie weg konnten, zeigte sich der fürchterliche Fehler, den sie die ganze Zeit, 28 Jahre lang, gemacht haben, indem sie regiert haben … ich weiß nicht, wie. Einfach blöd.

Und dann wuchert – oder: gedeiht – im Haus der jungen Talente noch etwas anderes. Und hier sind wir bei dem, was am Anfang mit „Sympathien für das Leben in dem Haus“ angesprochen wurde. Zum Beispiel die 17-jährige Sportlerin, die einem Reporter den Sieg ihrer Mannschaft zum Wohl des Sozialismus verkündet und dabei unsicher ist, tastend, den staatstragendenTon noch nicht richtig drauf hat und deshalb sympathisch wirkt. Vor allem angesichts der Ratschläge und Weisungen, mit denen sie qua Collage regelrecht umzingelt wird (21’32-23’53). Oder der Liederwettbewerb aller Bezirke (41‘47ff.), wo plötzlich Operette, Chanson, Lied zu hören sind – mit ehrlichem Bemühen und zugleich rührend unbeholfen. Auf einmal klingt es gar nicht mehr nach DDR und FDJ. Man hört ganz einfach junge Menschen, die sich zeigen, sich ausprobieren und ihre kleine Chance aufs Rampenlicht nutzen wollen. Keine parteigeleiteten Karrieristen – die an anderer Stelle erwähnt werden – sondern in einem völlig unschuldigen Sinn das, was das Haus im Namen trägt: junge Talente. Und wenn dann Musiker den Free Jazz spielen (ab 46’55), für den die DDR auch berühmt war, kommen sie sehr nah an das, was Frieder Butzmann zur gleichen Zeit wenige Kilometer entfernt in Westberlin gemacht hat.

Ich mach’s einfach mal

Im Gespräch erinnert sich Frieder Butzmann an die Entstehung seiner Sendung. Die Geschichte klingt ziemlich nach Wildem Westen. Es habe damals noch Redakteure gegeben, die etwas gewagt hätten (Robert Matejka). Der wäre nach einer ersten Präsentation sofort begeistert gewesen, hätte ihm keinerlei Vorgaben gemacht, aber auch gesagt, er könne, wenn sie ihm nicht gefallen würde, die Sendung ganz kurzfristig wieder absetzen. Er, Butzmann, habe sich mit Haut und Haar ins Material gestürzt, beflügelt von der Freiheit, alles ganz nach seiner Façon machen zu können.
Kann man sich so etwas trauen? Sollte man sich so etwas trauen? So ganz frei von der Leber weg? Wie so oft kann die Antwort wieder ja noch nein lauten. Man kann es sich trauen, aber man kann damit scheitern. Nicht jede und nicht jeder kann es sich trauen. Es geht nicht ohne Hingabe, nicht ohne intensive Recherche, nicht ohne commitment zum Thema, nicht ohne einen individuellen und mehr als oberflächlichen Zugang, nicht ohne Talent und Beharrlichkeit. Es muss eine Konstellation zwischen Autorin oder Autor und dem Gegenstand da sein, die sichtbar und sinnfällig ist. Mut und Sensibilität müssen im richtigen Verhältnis stehen. Und dann kann es immer noch scheitern.

Das „einfach mal loslegen“ geschah hier auf zwei Ebenen. Zu einen hat eine Redaktion anerkannt, dass hier ein sehr eigener künstlerischer Zugang da war, und nicht versucht, den zu kontrollieren und zu dirigieren. Zum anderen hat ein Künstler seiner Intuition vertraut und unbefangen sein eigenes Ding gemacht. Aber: ist Unbefangenheit hier das richtige Wort?

Dein Lied, deine Worte

Und jetzt kommt das Singen. Am Anfang steht der Lagerfeuer-Evergreen „The House of the Rising Sun“, umgedichtet auf das Haus der jungen Talente. Später eine Art Psalmodieren, die wohl an Brecht-Lieder in ihren Vertonungen von Eisler, Weill etc. erinnern soll. Wieder später eine Art volkstümlicher Schlager: „die Fünfziger Jahre, die sind ein hartes Brot“. Immer hat es einen Bezug zum musikalischen Inhalt der Koffer, und immer klingt es zugleich nach Butzmann. Nach dem Sound, in dem er sich seit vielen Jahren artikuliert, dem Sound der genialen Dilletanten, der keine Scheu davor hat, sich zum Affen zu machen. Ich halte ihn nicht für kalkuliert oder für ein strategisch gewähltes Alleinstellungsmerkmal. Aber auch nicht für naiv. Er gehört zu Butzmann und wurde von ihm eingeübt in jahrzehntelanger künstlerischer Praxis. Darum geht er einher mit Reflektiertheit – Butzmann hät Vorträge über seine Kunst und lehrt an Universitäten – und auch mit Virtuosität: seine Collagetechnik ist präzise.

Warum der Gesang? Im Gespräch führt er einerseits die Tradition der Commedia dell’arte an, der Oratorien und der politischen Lieder. Man könnte noch großzügig Bluesgesang, Griot-Tradition und am Ende auch antike Ependichtung anfügen: sobald es etwas zu erzählen gibt, ist der Gesang nicht fern. Aber die Antwort für dieses Radiostück liegt viel näher.

„Da gab’s gar nichts zu überlegen“, sagt Frieder Butzmann im Interview dazu, und: „da hätte jeder drauf kommen können.“ Die Brecht-Lieder, die Protestsongs, die amerikanischen Lieder, die beim Woodstock des Ostens auch in der DDR populär waren: Sie waren ihm nach tagelangem Hören der Bänder im Ohr und er hat, vielleicht aus Spieltrieb, vielleicht aus Notwehr, aufgegriffen und weiter gespielt, was das Material vorgab. Mimikry betrieben, selber den singenden Jungpionier gespielt. Gar nicht besonders subtil, ohne langes Besinnen, einfach drauflos, deswegen auch nicht immer perfekt intoniert und sowieso mit dem süddeutschen Akzent und dem hellen Timbre, ohne den es Butzmann eben nicht gibt. Was soll der Gesang – diese Frage müsste sich also ans Haus der jungen Talente richten. Denn Butzmann hat einfach nur zurück gesungen.

Ingo Kottkamp

 

Gespräch mit Frieder Butzmann 2020

Wie Zuhörende, die aus der DDR stammten, bei einer Vorführung reagiert haben.

Warum er dieses Stück als Hörspiel und nicht als Feature sieht.

 

Biografie

Frieder Butzmann, 1954 in Konstanz geboren, Komponist, Musiker, Autor und Vortragsreisender, Hörspielautor, Performancekünstler. Verdingt sich weltweit als „Crachmacheur“. Auftritte im Kreuzberger SO 36, Museum of Modern Art in New York, in Paris, Rotterdam, Kopenhagen. Seit den 1980er Jahren zahlreiche Arbeiten für das Radio z.B.: „Das Pfeifen im Walde“ (mit Thomas Kapielski, DLR Berlin 1997), „Das Spunkkrachlexikon“ (DLR Berlin 2001), „Alethes Soundbeams“ (Autorenproduktion für DKultur 2006), „juHrop – Klingonische Oper“ (DKultur 2009), „Burtts Family Combo“ (DKultur 2012) und verschiedene Wurfsendungsserien, z.B. „Exoplanet. Muster möglicher Welten“ (Autorenproduktion für DKultur 2016). Zuletzt: „Let’s do the Stumpfkonsonanz“ (Deutschlandfunk Kultur 2018).

Stichwörter: 

DDR; Kulturpolitik; Berlin

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