Die Bidonvilles von Paris

von Hubert Fichte

Die Bidonvilles von Paris
Versuch, eine Landkarte Frankreichs zu ergänzen
Von Hubert Fichte
Mit: Herbert Duprow und Walter Andreas Schwarz
Regie: Imo Wilimzig
Produktion: SDR 1967
Länge: 57'56

Kein schönes Déjà-vu: was Hubert Fichte 1967 über die Armutssiedlungen der Pariser Banlieues erzählt, kommt einem heute noch bekannt vor.

Armut. Migration. Segregation. Elendstourismus. Strukturelle Gewalt. Bildungsferne Schichten. Prekäre Milieus. Hilfsorganisationen und deren Doppelbödigkeit. Folgen des Kolonialismus.  ̶  Wir sind im Paris der 60er Jahre. Zugleich sind wir bei drängenden Problemen unserer Gegenwart, in Europa und weltweit. Und der Autor, der sich ihrer annimmt, gilt als Vordenker von Queer Theory und Dekolonialisierung. Es gibt von ihm zahlreiche weitere Radiostücke über Afrika, Brasilien, Portugal, Griechenland; über Psychiatrie, synkretistische Religionen, Stricher, Zuhälter und Prostituierte. Dass er so viel für den Rundfunk gearbeitet hat, wissen viele gar nicht, denn bekannt ist er als Schriftsteller. Klar, dass wir von Wirklichkeit im Radio uns auf ihn gestürzt haben: den Poeten, Romancier, Ethnologen und Reisenden Hubert Fichte.

Das Stück wird bestellt, ein geeigneter Zeitraum zum konzentrierten Hören gefunden (immer eine Kunst für sich), und dann beginnt der Einstieg in die Radiowelt von Hubert Fichte. Mit einer Ernüchterung.

„Darf man hier auch irrationale Eindrücke äußern ?? Wie geht mir dieses besonders französisch ausgesprochene Französisch dieses Sprechers auf den Keks !!“ So äußert sich, in unserer Hör- und Kommentarliste, derjenige von uns vier, der am meisten für den O-Ton brennt. Ja, es geht um Odette, die vier Liter Wein am Tag trinkt, und um André B., der in den Ferien eines der Armenlager leitet. Aber hören können wir nur – den Sprecher, der den Text über sie liest. Es ist ihm nichts vorzuwerfen. Man kann das überprüfen, denn der komplette Text ist abgedruckt in Fichtes Buch „Alte Welt“, Band fünf seines Groß- und Lebenswerkes „Die Geschichte der Empfindlichkeit“. Hätte man diesen Text so ganz anders inszenieren können? Jedenfalls – die Magie der einzelnen Stimme, wie auf dieser Webseite anderswo anhand von Ernst Schnabel oder Horst Krüger beschrieben, stellt sich hier nicht ein. Der Studioton schafft Distanz. Als Hörer muss ich die erstmal überwinden und mich aktiv entscheiden, mich auf diesen Text einzulassen. Aber dann!

Bidonvilles – wörtlich etwa: Kanister- oder Fässerstadt – Wellblechsiedlung – Armen-, Elendsquartier – Slum – Favela – die Benennung trifft jeweils eine Vorentscheidung über die Einschätzung. Hier war Hubert Fichte im November und Dezember 1966, konkret in den Pariser Vororten Nanterre und La Courneuve. Als 31-Jähriger. Es ist aber nicht seine erste Begegnung mit einer solchen Siedlung. 1954, damals war er 19, trampte er durch Frankreich und arbeitete eine Zeitlang in einem Lager, das zum Emmaus-Hilfswerk des französischen ‚Armenpriesters‘ Abbé Pierre gehörte. Lange Auszüge aus seinem damaligen Tagebuch fließen in das Feature ein. Hier hört man eine zweite Sprecherstimme. Er verfügt also über mindestens zwei Perspektiven, die des Beobachters/Reporters und die des zeitweilig selbst Agierenden. Diese Perspektiven erweitert er durch zahlreiche Stimmen – nennen wir sie ruhig O-Töne, denn etliche Gespräche mit Bewohnerinnen und Mitarbeitern der sozialen Einrichtungen sind im (mutmasslichen) Wortlaut wiedergegeben. Fichte fragt konkret und informiert, nach Lebensumständen, was wieviel kostet und wer wie viel verdient. Er findet dumpfe Ressentiments („wenn ich mir den Lagerleiter ansehe, scheint mir doch ein Geruch der Liquidation von seinen Gedanken auszugehen“, S. 97) ebenso wie Sätze abgebrühter Langzeithelfer („In einem Bidonville kommen nur Leute zusammen, die zum Subproletariat prädestiniert sind“, S. 121) und er hält dagegen („Kann diese Überlegung ein Alibi sein, hundertvierzigtausend Menschen in einem Zustand zu belassen, wie er keinem Tier in unserer Zivilisation zugemutet wird […]?“, S. 127). Seine Beobachtungen sind detailreich: Baulicher Zustand, hygienische Umstände, Alkoholkonsum. Die Emmaus-Bewegung des erwähnten Abbé Pierre ist Thema, der mit einem flammenden Appel gegen die Armut viel öffentliches Interesse und auch staatliche Hilfe erreichte. Abbé Pierre wird dennoch als zwiespältige Figur angedeutet, aber nicht abschließend beurteilt. Fichte arbeitet sich an rassistischen Vorurteilen gegen Immigranten ab und an der Behauptung, eine bestimmte Schicht sei für das prekäre Leben prädestiniert und damit letztlich selbst schuld an ihrem Elend. Gegen beides bezieht er klar Stellung, differenziert aber auch: bei migrantisch geprägten Siedlungen hält er fest, wie trotz ärmlicher Zusände auf Kleindung und Sauberkeit der Kinder geachtet werde; bei der Siedlung, in der er in den 50ern arbeitete und deren Bewohnerinnen und Bewohner seit Jahrhunderten in Frankreich leben, wirkt er erschöpft und resigniert, was die Beurteilung ihrer Perspektiven angeht: „Wer drückt die Empfindungen aus der Kinder, die ihre Entstehung dem Alkoholbedürfnis der Eltern verdanken, das umso leichter befriedigt werden kann, je mehr Kinderzulage sie erhalten?“ (S. 113)

Das alles ist 100% Feature: nah, kundig, intensiv, szenisch, vielschichtig, mehrperspektivisch, mit sprechenden Details. Der Text zeigt auch nicht wenige Ähnlichkeiten mit der Machart eines typischen Features aus Autorentext und O-Ton. Er ist aus vielen Einzelmodulen aufgebaut, die ohne vermittelnden Erzähltext montageartig aufeinanderfolgen. Er springt von Situation zu Situation, von Perspektive zu Perspektive, und die (verschriftlichten) O-Töne sind einfach da, ohne erzählerische Verbrämung, selbst die Anführungszeichen spart er sich. Das alles sind übrigens Techniken, die Fichte generell in seinen Texten verwendet, auch denen, die nicht fürs Radio bestimmt sind. Ebenfalls sehr ‚featuremäßig‘: Fichtes persönliche Haltung. Die zeigt sich in der häufigen, aber nicht aufdringlichen Thematisierung seiner eigenen Rolle:

„dieses Anbiedern im kamelhaargefütterten Mantel, dies verständnisvoll das richtige herzliche Wort im richtigen Augenblick sagen, den Kindern womöglich einen Bonbon zustecken und der tapferen Mutter fest die Hand drücken und den Eindruck hinterlassen des guten Onkels, der das Herz auf dem rechten Fleck hat. Ich will weg. Ich habe genug gesehen.“ (S. 121)

Die Haltung zeigt sich auch in der Rahmenhandlung, die noch mal einen eigenen Kommentar auf die These von der Prädestiniertheit der Mileus wirft. Während der Zeit seines Frankreich-Besuchs ist auch der sowjetische Ministerpräsident Kossygin im Land, und der – wiederum detailreich und plastisch geschilderte – höfische Pomp des Staatsbesuches mit Banketten, Jagden und stilvollen Kaminfeuergesprächen legt nahe: wer in dieser eleganten Parallelwelt lebt, ist dazu prädestiniert, den Leuten in den Bidonvilles niemals wirklich zu helfen.

Zwischenschnitt und eine kurze Befangenheitserklärung: wir vier von Wirklichkeit im Radio sind alle biassed, das kommt in unseren Texten immer wieder durch, wir leben mit dem und teilweise auch vom Feature, dieses Konzept „Radiofeature“ bedeutet uns etwas. Hubert Fichte sah das anders. Er hat eine raffinierte Form gefunden, seine Radioarbeiten komplett aus dem Radio herauszulösen und sie in sein schriftstellerisches Werk zu integrieren: eben mit der Geschichte der Empfindlichkeit. Literarisierung und Protokoll, Romane und Journalismus stehen darin in vielfältig verschlungener Wechselwirkung. Die gut 25 Seiten Featuremanuskript verändern sich durch das, was in dem dicken Band vor und nach ihnen steht. Der, der hier für den Sender auf Recherchereise geht, hat auch ein Privat- und Sexleben und zieht gegen Kollegen aus dem Literaturbetrieb vom Leder – es gehört alles zusammen. Das geht so weit, dass er stellenweise gegen seine Tätigkeit als Featureautor anschreibt. Zum Beispiel schildert er, etwa siebzig Seiten vor den Bidonvilles, eine Einweihungsparty im Hamburger Künstler- und Literaturmilieu, bei der Fichtes Alter Ego Jäcki für ein Rundfunkfeature angeworben werden soll. Er will aber (zunächst) nicht. Und gibt dabei zum Besten, was er von dieser Form hält und denen, die sie betreiben. Hier ein paar Kostproben – Hubert Fichte/Jäcki über das Feature:

– Fahren Sie für uns nach Griechenland, sagte Dr. Baechtli, und schreiben Sie ein Feature für unseren Weltatlas. Ich schreibe einen Roman, sagte Jäcki.
(S. 18)

– Ich kann kein Feature schreiben.
Ein Feature, das ist keine Kunst.
Ich schreibe Romane.
Die Palette.
[…]
Ein Feature, das gibt es gar nicht.
Das ist sowas wie das Interview oder das Hörspiel nach 45.
Eine pure Heuchelei:
Alte Nazis, die so tun, als seien sie realistische Amerikaner.
(S. 19)

Am Ende hat er’s dann doch gemacht. Nur des Geldes wegen, wie es der Text nahelegt, oder doch, weil es ihm einen weiteren Kanal für sein Projekt des Reisens, Forschens, Suchens gab? Knapp eineinhalb Jahrzehnte später sagte er, jetzt nocht als Jäcki, sondern als Hundert Fichte in einem NDR-Interview mit Peter Laemmle:

Also Feature finde ich sehr wichtig. Die Feature-Form, die ja nach 45 vor allem im Norddeutschen Rundfunk oder auch im Nordwestdeutschen Rundfunk mit den amerikanisch-journalistsichen Formen in das Nachkriegsdeutschland geschwemmt worden ist, hat mich ja sehr geprägt. Ich hab ja zum Teil Feature damals im Radio gesprochen, und Feature fand ich eine der großen modernen poetischen Formen. Und man könnte das überhaupt als Siegel meiner Arbeit bezeichnen.
(Zit. nach: Hubert Fichte, Hörwerke 1966-86, Hg. Robert Galitz, Kurt Kreiler und Martin Weinmann, Frankfurt a.M. 2006, 8)

Die Bidonvilles jedenfalls sind nach zwei Reisestücken über Griechenland sein drittes Feature (Bericht wird es genannt), es folgen zahlreiche weitere. In späteren Stücken spricht er öfter selbst. Es inszeniert oft sein Freund Peter Michel Ladiges, in einer hörspielartigen Manier mit langen, verfremdend eingesetzten Einspielungen klassischer Musik. O-Ton nutzt Fichte nur bei den rumpelig aufgenommenen, aber inhaltlich faszinierenden St.-Pauli-Gesprächen  ̶  das waren aber Arbeitsmitschnitte, die daraus resultierenden Werke waren Buchveröffentlichungen („Interviews aus dem Palais dAmour“, 1972 und „Wolli Indienfahrer“, 1978). Mit dem akustischen Feature, mit dem der SFB hervortrat – genau im Jahr der Bidonvilles wurden dort Peter Le0nhard Brauns „Hühner“ gesendet – hatte er nie irgendetwas am Hut. Akustische Tableaus, szenischer O-Ton, Atmo-Originaltonmontagen – null. Er agierte als Schriftsteller.

Exkurs: Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die auch fürs Radio arbeiten, aber keine genuinen Hörspiel- oder Featureautoren sind, wären eine eigene Untersuchung wert. Oft liefern sie einfach Texte, die eben von Sendeanstalten verbreitet (und vor allem bezahlt) werden. Manchmal aber kommen von ihnen nolens volens Impulse fürs Radio, die die Featurezunft spät und zögerlich wahr- und aufnimmt. Weit oben in einer solchen Untersuchung stände Rolf Dieter Brinkmann. Als der WDR ihm ein Mikrofon zur Verfügung stellte, betrieb er damit eine sonische Selbst-, Stadt- und Medienerkundung von einer Eindringlichkeit, die bis heute einflussreich ist. Fichte verließ wie erwähnt die Textebene fast nie. Und trotzdem hätten manche seiner Kollegen Features wie die Bidonvilles mit Gewinn lesen können. Denn sie treffen viel genauer ins Zentrum der sozialen Wirklichkeit als andere Reisefeatures aus der gleichen Zeit, die oft sehr feuilletonistisch ausfallen. Und in der späteren Arbeit „Gott ist ein Mathematiker“ gibt er mit profunder Kenntnis Positionen aus der westafrikanischen Psychiatrie wieder und verzichtet dabei völlig auf impressionistische Beschreibungen seiner Afrika-Eindrücke, die sich klassische Reisefeatureschreiber niemals hätten entgehen lassen. Kein Wunder: er war ja auch kein Afrika-Tourist, sondern hatte gemeinsam mit Leonore Mau mehrmals in psychiatrischen Einrichtungen im Senegal und in Togo gearbeitet. Auch das ist ein Zug in Hubert Fichtes Radioarbeit; er schrieb auch im Radio über Themen, die ihn sowieso über Jahre hinweg in Leben und Werk beschftigte. Es gab jüngst eine Ausstellung dazu, was Hubert Fichte in den von ihnen bereisten Ländern wollte und was die dort besuchten Menschen ihm antworten könnten oder wollen.

Und nicht zuletzt haben sich die Bidonvilles und die mit ihnen zusammenhängenden Fragen als Dauerthema erwiesen. 2008 schrieb der Autor Kurt Kreiler für den Deutschlandfunk ein Feature, das auf den Spuren Fichtes die Banlieues ein zweites Mal bereist. Inzwischen sind die Baracken Hochhäusern gewichen und man spricht von den ‚bidonvilles verticaux‘. Im Jahr 2021, in dem dieser Text geschrieben wird, sind nicht nur die Probleme dieser Vorstadtsiedlungen nicht gelöst. Eine Korrespondentin berichtet von einem Flüchtlingslager bei Dünkirchen, an dem ein Wasserhahn für 1800 Menschen zur Verfügung steht: das gleiche Detail wie bei Fichte, 55 Jahre später. Ein nochmaliges Update der Bidonvilles – mit den Fragen und Beobachtungen von Fichte im Gepäck, mit mehr akustischen Mitteln, mit noch prominenteren Stimmen derer, die dort leben – das wäre: Wirklichkeit im Radio, relevant, zeitgemäß, drängend. Denn die Wunde, die Fichte 1967 anspricht, ist auch 2021 noch nicht geschlossen.

Ingo Kottkamp

Der Text des Features ist abgedruckt in:
Hubert Fichte. Alte Welt. Glossen. Frankfurt a.M. 1992. Hg. Wolfgang von Wangenheim und Hubert Kay. [= Die Geschichte der Empfindlichkeit. Band V.] 91-127

Biographie

Hubert Fichte (1935–1986), geboren in Perleberg, wuchs in Hamburg auf, war Schauspieler, Schäfer, ab 1963 freier Schriftsteller. Mitglied der Gruppe 47 und des deutschen PEN. Zu seinen wichtigsten Werken zählen die Romane „Das Waisenhaus“ (1965), „Die Palette“ (1968) und „Versuch über die Pubertät“ (1974), die von ihm „ethnopoetisch“ benannten Reiseberichte „Xango“ (1976) und „Petersilie“ (1980) sowie die unvollendete mehrbändige „Geschichte der Empfindlichkeit“, die als Fichtes Hauptwerk gelten darf.

Ausgewählte Radiostücke

„Agadir. Bilder einer Stadt“, SWF 1968
„Djemma el Fna – der Platz der Gehenkten. Ein Reisebericht über Marrakeasch“, SWF 1971
„Gesprochene Architektur der Angst“, WDR 1973
„Der Zauberberg. Zur Entstehung einer neuen Religion in Venezuela“, SDR 1978
„Materialismus und Magie. Tagebuch der Revolution auf Grenada“, SFB 1979
„Afrika 80 – Gott ist ein Mathematiker. Gespräch über Medizin und Psychiatrie in Togo“, HR (?) 1979 (?)
„Wie man ein Voudou-Priester wird“, BR 1985
„Das Volk von Grenada“ zwei Teile, SDR 1986

 

Stichworte:

Armut, Banlieues, Wohnungspolitik, Einwanderungspolitik

 

 

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