zwettls traum?

Bei „Zwettls Traum“ handelt es sich um ein frühes Werk des Autors Michael Lissek, das im Auftrag des ORF entstanden ist. Auf Anregung des Redakteurs Peter Klein, seinem einstigen Mentor, reiste Michael Lissek 2003 ins österreichische Zwettl, um dort einer Geschichte nachzugehen, die Anfang des selben Jahres für Schlagzeilen in so gut wie allen deutschsprachigen Medien und auch weit darüber hinaus gesorgt hatte.

„Sehen Sie nichts?“

Die Bibliothekarin der Stiftsbibibliothek Zwettl hatte in ihrer Bibliothek eine Kiste mit Fragmenten alter Handschriften entdeckt. Sie identifizierte auf den Schnipseln Wörter, die in ihren Augen auf die Nibelungensage hindeuteten, und datierte sie auf das 12. Jahrhundert. Sie erklärte sie zur frühesten jemals gefundenen Fassung des Nibelungenliedes und ging damit an die Öffentlichkeit. Während die Presse den „Sensationsfund“ euphorisch aufnahm, distanzierte sich die germanistische Fachwelt sehr entschieden von Frau Dr. Ziegler und stellte sowohl die Datierung als auch die Zuordnung zum Nibelungenstoff allgemein in Frage. Ziegler wurde scharf angegriffen, die fachliche Qualifikation, mittelalterliche Handschriften überhaupt zu bewerten, wurde ihr abgesprochen.

An diesem Punkt, wo im Grunde alles gesagt ist, beginnt die Erzählung von Michael Lissek. Mit einer also beinahe archetypischen Konstellation: Eine unterlegene Protagonistin, ein übermächtiger Gegner, ein sensationslüsternes Publikum. Und dazu der Nibelungenstoff, der die düstersten Assoziationsräume eröffnet, die die „deutsche Seele“ so zu bieten hat.

„Eine Außenseiterin im germanistischen Sektor“

Zunächst scheint Lissek einfach nur das Geschehene zu rekonstruieren und mit passenden Ausschnitten aus Nibelungen-Hörspielen für Kinder eine zweite, literarische Ebene einzuziehen, die quasi den Niederschlag der Sage im kollektiven Bewusstsein spiegelt. Beide Seiten, die Bibliothekarin wie die Professoren, kommen im O-Ton zu Wort, breiten ihre Argumente aus, berichten, wie sie die Ereignisse rund um den Fund erlebt haben. Dabei kommt es zu sich widersprechenden Aussagen, die durch den Autor nicht weiter kommentiert werden. Ohnehin taucht der Autor kaum im Stück auf. Jedenfalls nicht im klassischen Sinne mit einem Erzählertext. Lediglich zu Anfang beschreibt er die Ausgangslage, zwischendrin gibt er eine Zusammenfassung (Autorentext von einer Sprecherin vorgetragen), um sich dann immer weiter zurück zu ziehen. Und stattdessen zum Charakter in seinem eigenen Stück zu werden. Als nachfragende, staunende, und manchmal ratlose Stimme und nicht als wissende oder einordnende Instanz, taucht er lediglich noch im O-Ton auf.

Michael Lissek betont, dass es ihm in allen seinen Stücken darum gehe, möglichst eine „Gleichwertigkeit der Stimmen“ herzustellen. Er verfolge keine Thesen, so Lissek, sondern starte mit der größtmöglichen Offenheit und lasse die Widersprüche generell stehen, damit sich die Hörerin/der Hörer selbst entscheiden könne, was ihn/sie überzeuge und was nicht.

Wird die Bibliothekarin vorgeführt?

Ich muss dazu sagen: Dieses Stück war in unserem Team höchst umstritten. Beanstandet wurden zum Beispiel die gewollt „lustigen Schnitte“ oder das „Ausstellen der erzählerischen Mittel“ durch den Autor, das ihn selbst statt des Geschehens ins Zentrum rücke. Vor allem aber kreiste die Kritik um die Frage: Wird die Bibliothekarin Frau Dr. Ziegler in Lisseks Feature vorgeführt? Eine Frau, die sich doch offenbar hineinsteigert, die sich verbissen hat in ihr Thema, obgleich fachlich längst abserviert. Die sich dem Autor offenherzig anvertraut und gerade in ihrer Besessenheit zu DEM interessanten Charakter wird, der das Feature letztlich trägt. „Benutzt er die Bibliothekarin nicht für den ganzen Jux?“, steht in unseren Protokollen. Ermuntert der Autor sie nicht sogar noch, sich in immer verrücktere Thesen zu versteigen. Und lässt sie, mit möglicherweise gespielter Arglosigkeit, absichtlich ins offene Messer laufen. Spätestens als sie im Schlussteil auch noch beginnt, mikroskopisch kleine, versteckte Bilder in den Handschriften zu erkennen, die der Autor definitiv nicht sehen kann, wird die Wahnhaftigkeit der Frau Dr. Ziegler doch eindeutig entlarvt – oder etwa nicht? Michael Lissek berichtet (Quelle: Interview am 20.8.2021), dass genau dieser Einwand ihn seit der Ausstrahlung von „Zwettls Traum“ begleitet. Und er scheint ja auch begründet.

In einer anderen Lesart dieses Features jedoch, für die ich an dieser Stelle werben möchte, weil ich sie für eine wichtige Inspirationsquelle auch für künftige ErzählerInnen halte, tritt die Frage danach, wer letztlich „Recht hat“, in den Hintergrund. Dafür spricht unter anderem, dass diese Frage ja ohnehin längst entschieden ist, als Lissek seine Recherche beginnt. Nachdem sich kein einziger der von den Medien konsultierten Wissenschaftler öffentlich auf die Seite der Frau Ziegler gestellt hat, kann Lissek nicht davon ausgehen, dass er einen Skandal aufdecken und die Bibliothekarin noch rehabilitieren wird. Vermutlich geht es bei der ganzen Geschichte also doch um etwas anderes. Und hier wird der Unterschied zum Feature journalistischer Prägung besonders deutlich. Eben weil es ein klassisch journalistisches Sujet ist, das hier ganz anders verhandelt wird.

Radikale Vielstimmigkeit als Erzählprinzip

Um diese Eigenart des lissekschen Erzählens herauszustellen, habe ich den „Zwettl“ vor einigen Jahren einmal mit dem Instrumentarium der Literaturwissenschaft, und speziell mit den erzähltheoretischen Konzepten Michail Bachtins betrachtet („Von der Welt erzählen in vielen Stimmen. Polyphonie im deutschen Radio-Feature“ Magisterarbeit 2007). Was mir nach wie vor naheliegend erscheint. Das Feature ist ja von jeher eine erzählende Gattung. Die vor sich hin vagabundiert, weitgehend ohne theoretischen Diskurs, anders als seine Geschwister, die verschiedenen literarischen Formen, der Dokumentarfilm etc. Das ist schade, und ich glaube, es gäbe mehr Vielfalt, wenn die ästhetische Reflektion tatsächlich mal etwas Fahrt aufnehmen würde. Aber das nur am Rande.

Der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin (*1895) jedenfalls beschrieb anhand der Romane Dostojewskis ein Prinzip, das er „dialogisches“ oder „polyphones“ Erzählen nannte („Probleme der Kunst Dostojewskis“, 1929). Das polyphone Erzählen strebt die – auch von Lissek so benannte – „Gleichwertigkeit aller Stimmen“ an. Die Äußerungen der verschiedenen Protagonisten treffen aufeinander, ohne vom Autor bewertet zu werden. Nicht aus dem Glauben heraus, „Wahrheit“ sei letztlich verhandelbar. Sondern weil es um „die Wahrheit“ in diesem Fall nicht geht. Stattdessen entfalten sich Weltsichten, Charaktere, Motive – durch die eigene Rede und im quasi dialogischen Austausch mit dem Autor, ohne am Ende einer finalen conclusio zugeführt zu werden. Was im Feature, wo die Protagonisten keine „Erfindungen“ eines Autors sind, sondern real existierende Menschen, letztlich viel konsequenter noch durchzuführen ist als im Roman. In der Haltung des Autors gegenüber den Sprechenden, dem Verzicht auf Kommentar und Schlussfolgerung, der Gewichtung der Sprecher und anderen Details, sehe ich Lissek dem „polyphonen Erzählen“ sehr nahe. Wobei noch erwähnt sei, dass es sich dabei um ein Kompositions- und Erkenntnisprinzip gleichermaßen handelt. Der Autor der „polyphonen“ Erzählung kann kein auktorialer Erzähler sein, bis zum Schluss muss er ein Suchender, ein Fragender bleiben – und sich anstrengen, seinen ProtagonistInnen auch auf entlegenere Pfade zu folgen.

„Ich bin kein konfrontativer Autor“

Ohne hier zu sehr ins wissenschaftliche abzuschweifen, lässt sich sagen, dass es auch im „Zwettl“ vermutlich weniger um die endgültige Festschreibung der objektiven Wahrheit geht, als um die Geschichten HINTER der Geschichte oder besser IN der Geschichte. Denn sie entfalten sich zwischen den Zeilen, wie die Bilder der Frau Ziegler zwischen den Buchstaben. Wie in Bachtins Ausführungen konstitutieren sich auch im „Zwettl“ die Charaktere ganz wesentlich über ihre Art und Weise zu sprechen. Und aus diesem Sprechen ergeben sich für mich die EIGENTLICHEN Erzählungen. (s. Interview-Clip unten „Sprache in ‚Zwettls Traum'“) Sie brauchen den Konflikt um den Fragmentenfund lediglich als Spannungsfeld, als Ausgangspunkt, als Plot-Line – die stimmigerweise der Logik der „Entzifferung“ folgt. Und handeln zum Beispiel von den Abgrenzungsmechanismen des Wissenschaftsbetriebs. Vom akademischem Selbstverständnis, das hier ein sehr männlich geprägtes ist („Man muss sich das so vorstellen, dass ein fachkundiger Mensch, das ist in der Regel ein Philologe, ein Latinist oder ein Germanist…“ ), von fachlicher Autorität vs. (durchaus sympathischer?) laienhafter Besessenheit, vom Kulturclash zwischen „ruppigen“ deutschen Professoren und einer höflichen, aber vielleicht verrückten Österreicherin, von der Empörung darüber, wie ausgerechnet die Österreicherin sich anmaßt, diesen urdeutschen Kulturschatz entdeckt zu haben. Und natürlich von den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie, dem Erregungspotenzial des Nibelungentextes und der Funktionsweise des Medienbetriebs.

Rand ist überall

Am allermeisten aber, handeln sie wahrscheinlich von ihren Charakteren selbst. Und von der Möglichkeit ihnen zu folgen, auf ihr ureigenes Terrain. In die weltverlorene Einsamkeit einer österreichischen Stiftsbibliothek. Wo man sich eher mit Büchern denn mit Menschen unterhält. Und in die Zwischenräume allerwinzigster Buchstaben, die man mit bloßem Auge gar nicht mehr erkennen kann. Oder auf eine – für mich ebenso absurd wirkende – Mediävistenagung in Kalamazoo. (Wir haben im Laufe unserer Recherchen viele Features aus „Randbereichen“ der Gesellschaft gehört – meist Gefängnisse, Psychiatrien etc. – hier mal der Beweis: Der Rand ist überall! Man erreicht ihn schneller als gedacht.)

Wird Frau Ziegler also vorgeführt oder nicht? Ich würde sagen: Es kommt auf die Hörerin bzw. den Hörer an! Hat er/sie Sympathien für einen Menschen, der sich in sein Thema hineinsteigert, möglicherweise auch über die Schwelle des „gesunden Maßes“ hinaus? Interessiert man sich für eine, die so lebt? Interessiert man sich für ihre Hervorbringungen? Ist sie einem vielleicht sogar sympathisch? Fiebert man mit ihr, obwohl es so gut wie aussichtlos ist? Oder findet man es peinlich, unangenehm? Das kommt darauf an, wie man selbst aufgestellt ist, wie man selbst auf Protagonisten in Geschichten schaut und vielleicht auch, wie man auf Menschen schaut. Die Gegenfrage lautet ja: Werden die Professoren denn eigentlich NICHT vorgeführt? Ist das Maß ihrer Empörung dem angemessen, was eigentlich „vorgefallen“ ist? Sind sie sympathisch? Sind sie die interessanteren Charaktere – oder die langweiligeren? Und wie sprechen die überhaupt?! Wer ist mir näher? Auch alles Wahrheiten, die im Feature erzählt werden können.

„Ich weiß nicht, warum ich etwas anderes machen sollte, als das Extreme“

Und doch gibt es auch bei mir zugegebenermaßen ein Unbehagen. Ein kleines bisschen nur beim „Zwettl“. Mehr dann bei späteren Stücken, etwa bei „Take me Home“ (2009), einem Feature, in dem Menschen portraitiert werden, die einen großen Teil ihres Lebens in einer Karaoke-Bar verbringen und ihr Innerstes mit Hilfe von Phil-Collins-Titeln nach außen kehren. Auch bei „Pädophilie“ (2008), „Verteidigung des Zölibats“ (2011) und einigen anderen. Und ich glaube, es hat mit dem übergroßen Bedürfnis zu tun, den Protagonisten immer unglaublich nahe zu kommen. Sie möglichst „nackt“ zu zeigen und mit ihnen in intimste Bereiche vorzudringen, die sie selbst vielleicht noch nie betreten haben. Ein Effekt, der zum einen das Ergebnis einer sehr nahen Stereomikrofonierung ist (s.“nackt“). Zum anderen aber auch das einer speziellen Befragungspraxis (s. „Interviewtechnik“). Die Protagonisten wirken Autor und HörerIn ein Stück weit ausgeliefert. Es gibt öfter diesen Moment der Peinlichkeit, den Moment, wo man sich fragt, ob sich hier schon jemand lächerlich macht oder nicht. Im Interview erörtert Lissek, was er anstrebt:

„Ich möchte in den Grenzbereich kommen (…) Ich interessiere mich ganz offensichtlich stark für Menschen. Für ihre Leidenschaften, Spinnereien, Passionen, Devianzen (…) Ich möchte verführt werden, irgendwo hinzukommen, wo ich noch nicht war. Und ich möchte aber auch alle Menschen, mit denen ich dort zusammen bin, verführen irgendwo hinzukommen, wo sie noch nie waren.“ (s. „Das Extreme“)

Und er argumentiert u.a. mit Bataille:

„Das sind meine Philosophen, die ich gelesen habe, das ist meine Welthaltung so ein bisschen, das „Heilige“ im Alltagsleben zu suchen. Den ultimativen Moment, wo die Normalität verschwindet und etwas anderes aufscheint, als Blitz, als Riss, als Sekunde. Und offensichtlich suche ich danach in den Gesprächen. Und vielleicht suche ich auch danach in den Themen. Aber ich würde nicht sagen, dass ich das absichtlich tue. Sondern es kommt in jedem Gespräch, wenn man mit mir redet, irgendwie dazu.“ (s.> „Das Heilige im Alltagsleben“)

Doch wo endet das „Heilige“ und beginnt die profane Sehnsucht nach dem Krassen, dem Spektuklären, der unwiderstehlichen Pointe? Ich persönlich, als Hörerin, merke: ich teile diese Faszination fürs Extreme nicht. Oder nicht in dem Maße – jedenfalls nicht für „das Extreme an sich“. Aber ich nehme Lissek seine Sympathien für Frau Dr. Ziegler ab, sein echtes Interesse an ihr und ihrer Leidenschaft. Und folge ihm letztlich gern. Da wird es wieder eine HörerInnen-Geschichte. Eigentlich uninteressant. Ich erzähle sie, weil ich vermute, dass der Eindruck „eine Protagonistin werde ausgestellt“ vielleicht auch mit dieser spezifischen „Suche“ des Autors zusammenhängt. Ob Lissek am Ende der Verantwortung gegenüber einer Protagonistin wie Frau Ziegler gerecht wird – die keine Romanfigur ist, sondern eine reale Person, die weiter ihr Leben lebt – ist eine andere Frage, die sich, meines Erachtens jedeR HörerIn selbst stellen sollte.

Ein Sinn für Semantik oder: Menschen statt Räume

Damit sind wir schon beim Blick vom einzelnen aufs große Ganze: Wir als WiR (Wirklichkeit im Radio) haben den „Zwettl“ auch deshalb ausgewählt, weil in diesem frühen Stück einiges anklingt, was auch in den späteren Arbeiten von Michael Lissek immer wieder zu finden ist und ich würde meinen: was sie auszeichnet. Ich greife hier nur mal zwei Dinge heraus: Das Faible für das abgründige (das hier im Nibelungenstoff aber auch in den grenzüberschreitenden Wahrnehmungen der Frau Ziegler steckt) – für Extreme, Brüche und Devianzen. (s. „Themen und Werk“). Und die Bedeutung der Sprache – ein Erzählen, in dem das Wort im Mittelpunkt steht, das auf Semantik setzt – weniger auf atmosphärische Räume, Stimmungen, Landschaften  (s. „Ich bin kein Atmo-Bastler“). Und für das die Autorenproduktion der einzig denkbare Entstehungsweg ist. ( s. „Arbeitsweisen“).

Vielleicht kann man sogar sagen: Letztlich treffen im „Zwettl“ auch zwei Seiten der Autorenpersönlichkeit Michael Lissek aufeinander. Die akademische Welt, aus der er kommt und die sein Denken bis heute prägt – und die Faszination für Grenzüberschreitungen, für Abweichungen und Zustände jenseits des Gewöhnlichen und Alltäglichen. (s. „Das Extreme“) Die spannungsvolle Koexistenz beider Seiten hat zu bislang über 30 Features mit sehr eigener Handschrift, zu immer wieder neuen formalen Lösungen und ästhetischen Praktiken geführt, die die Gattung bereichert und weiter gebracht haben. Der „Zwettl“ ist einer ihrer Ausgangspunkte. Und trägt zugleich doch alles schon in sich.

Gespräch mit Michael Lissek 2021

ZWETTLS TRAUM

Wie es dazu kam

Sprache in „Zwettls Traum“

VIELSTIMMIGKEIT ALS KOMPOSITIONS- UND ERKENNTNISPRINZIP

Keine kritischen Fragen

Die Gleichwertigkeit der Stimmen

THEMEN UND WERK

Sex und Tod

Das Heilige im Alltagsleben

Das Extreme

Darlings: Eigene Lieblingsstücke

ARBEITSWEISEN

Interviewtechnik/Lacan

Der Produktionsprozess und die „Methode Stratka“

„Ich bin kein Atmo-Bastler“

Sitztechnik/Wie Töne entsehen

nackt

LEHRJAHRE

Österreich und Barbara Entrup

Vorbilder und Referenzen

Biografie

Michael Lissek (*1969) studierte Literaturwissenschaft, Germanistik und Religionswissenschaft an der FU Berlin und promovierte im Jahr 2000 über Hans Jürgen von der Wense. Danach Lehrjahre im Feature beim ORF in Wien. Bis 2017 Tätigkeit als freier Radio-Autor. Daneben akademische Lehrtätigkeiten, u.a. an der FU-Berlin (Angewandte Literaturwissenschaft) und der Universität Potsdam (Europäische Medienwissenschaften). Feature-Coach für die EBU, Coachings für den Featurenachwuchs der ARD (BR, SWR, Deutschlandfunk). Seit 2017 Redakteur des SWR für den Sendeplatz „Essay“.

Ausgewählte Werke

Pädophilie. Hölle im Kopf – WDR 3, Deutschlandfunk Kultur 2008

Take me Home. Oder: Ist es überhaupt Gesang? – SWR2, 2009

Der Tod des Tennessee Eisenberg. Oder: Bens Liste – SWR2, BR2, NDR-Info 2010

Verteidigung des Zölibats. Fragmente zu den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche – SWR2, RBB, WDR 2011

Zeit ist Frist. Mein Herz. Ich. – NDR 2017 (Dokka-Preisträger 2018)

 

Stichwörter:

Parallelwelt, Männergesellschaft, Einsamkeit

 

 

Unser Vater, der du bist in der Hölle

Eine Bemerkung vorab: Dieser Text bezieht sich auf die deutsche, gekürzte Adaption des Features von Sibylle Tamin – die in vielerlei Hinsicht beeindruckt.
Wir haben es hier mit einem Stück zu tun, das zunächst einmal von einem ungeheuren Materialfund profitiert. Und einer packenden Geschichte. Beides wird auf beeindruckende Weise zusammengeführt in einem spannenden, aufschlussreichen und immer beklemmenderen Stück. Meisterhaftes Storytelling und Wahrheitssuche gehen auf überzeugende Weise Hand in Hand. Dazu kommt eine kluge akustische Umsetzung, die dem Plot das ihre hinzufügt.
So einen Glücksfall gibt es in der Radiogeschichte selten: 1978, nach dem „Jonestown Massaker“ findet das FBI in Guyana 600 Tonbandkassetten, die es später an das National Public Radio Washington weitergibt.

Wie der Autor James Reston an die Bänder gekommen ist erzählt er hier.
(Quelle: Telefoninterview mit James Reston am 1.4.2019; Autor: Tanja Runow)

Zusätzlich hat er für seine Recherchen auch Überlebende interviewt.

Außerdem spricht er über den Umgang mit den Persönlichkeitsrechten.

Und der Fund hat es in sich. Wie sich herausstellt, hat der selbsternannte Sektenführer Jim Jones – im Stück von seinen Jüngern nur „Vater“ genannt – von seinen allerersten Reden nach der Gründung des Tempels 1956 in Indianapolis, bis zum Ende im Guyanischen Dschungel seine Auftritte selbst und umfassend dokumentiert. (Im Hintergrund ist dabei oft eine Schreibmaschine zu hören. Wahrscheinlich hat er im Größenwahn auch schriftliche Protokolle anfertigen lassen, um sein Wirken für die Nachwelt zu dokumentieren.) Die Jünger kommen ebenfalls zu Wort. Anlass sind meist öffentliche Glaubensbekenntnisse oder andere Auftritte vor der Gemeinde. Die kollektive Lossagung von den jeweiligen Herkunftsfamilien. Die Lobpreisung des Sektenführers usw.
In den Aufnahmen hört man den euphorischen, nicht uncharismatischen Grundton des frühen Jim Jones, der sich als Antifaschist und Bürgerrechtler in der Tradition Martin Luther Kings präsentiert.

Warum Jones so lange breite Anerkennung fand in der amerikanischen Gesellschaft aber auch im politischen Betrieb, beantwortet James Reston so.

Man hört ihn später, im Dschungel, seine Jünger als „dumme verpisste Reptilien“ beschimpfen und erniedrigen. Man hört ihn zunehmend schwächer werden, gezeichnet vom körperlichen Verfall durch verschiedene Erkrankungen – und kann die damit einhergehende Paranoia fast physisch spüren. Man hört ihn kleine Kinder zu Rache- und Gewaltakten gegenüber ihrer (außerhalb der Sekte lebenden) Verwandtschaft anstiften. Kleine Jungs, die ihren Müttern unter dem Jubel einer wirklichen großen Menschenmenge und dem hysterischen Gelächter des Sektenführers den schlimmstmöglichen Tod wünschen und diesen detailreich beschreiben. Man hört auch sehr gebildete, aufgeklärte Mitglieder, die vor dem Mikrofon in ihren eigenen Worten erklären, warum sie sich der Sekte angeschlossen haben. All dies ist sehr aufschlussreich.

Vorangetrieben wird die Geschichte von einem Erzähler (Christian Brückner), der zwar allwissend scheint, gleichzeitig aber aus der Perspektive eines fiktiven Sektenmitglieds spricht, so erklärt sich die Anrede “Father”. Mit dieser Mischfigur aus auktorialem Erzähler und involviertem Beobachter, findet Reston einen besonderen Erzählton, der eine Nähe zum Geschehen herstellt und aus dem Innenleben der Sekte berichten kann – einen Mix aus Insider und Beobachter.

Zur Konstruktion des Erzählers

Gleichzeitig treibt er so die Story voran. Und führt sie zielstrebig über verschiedene Eskalationsstufen auf den großen Showdown im November 1978 zu. Und bildet mit seinem ruhigen und klaren Tonfall einen Gegenpol zur spannungsvollen Handlung und der Hysterie der Sekten-O-Töne. Zugleich fungiert er als eine Art letzter Zeuge, als Überlebender und Übermittler, der auch dann noch weiter erzählt, als die anderen Jünger ihre mit Zyankali versetzte Limonade getrunken oder – im Fall der Weigerung – ihre entsprechende Spritze zwangsweise verpasst bekommen haben. Darunter über 200 Kinder. Das Stück endet ruhig, nicht reißerisch und verzichtet zum Ende auf jede akustische Zuspitzung.
Es gibt vieles, das man an diesem Stück preisen kann, über das Gesagte hinaus. Ein guter Umgang mit dem O-Ton, der durch die Overvoices nie verstellt wirkt. Die beinahe literarische und zugleich dokumentarisch präzise Sprache im Erzählertext und bei den Overvoices. Die Auswahl besonders aussagekräftiger O-Töne aus diesem riesigen Konvolut.

Zur Auswahl der Töne

Die gelungene dramaturgische Verdichtung, die nicht verflachend wirkt. Moniert wurde in unserer Kritiker-Runde, dass die Anfangszeit der Sekte auf Kosten des Suspense-Faktors etwas zu kurz kommt. Was man tatsächlich bedauern kann, da man sich natürlich die ganze Zeit über fragt, wie der Peoples Temple fast zwei Jahrzehnte lang gesellschaftlich akzeptiert und politisch fast hofiert werden konnte. (Jim Jones war im politischen Establishment Kaliforniens breit akzeptiert, Mitte der 1970er Jahre z.B. Vorsitzender der Wohnraumkommission in San Francisco – wie man aus dem Stück erfährt). Dieser Frage sollte sich vielleicht ein anderes Feature widmen. Zumal die Attraktivität sektenhafter Gruppierungen ja scheinbar ungebrochen ist. Aus den wabernden Musik-Teppichen und dem Re-Enactment-Theater der Overvoices spricht die Zeit. Der Rest… ist für die Ewigkeit.

Die US-Version mit dem Titel „Father Cares: the Last of Jonestown“ wurde 1983 mit dem Prix Italia ausgezeichnet. Zum selben Thema gibt es auch ein Feature von Carrie Asman mit dem Titel „Unter Einfluss“, in dem zwei Überlebende des Massakers berichten. Auch eine interessante Geschichte: Der unrühmliche Umgang mit den wenigen Überlebenden und Aussteigern im Anschluss.

Tanja Runow

 

Biografie

James Reston jr., geboren 1941 in New York, studierte Philosophie und lebt in Chevy Chase, Maryland. Bekannt ist er vor allem als Journalist und als Autor von über 20 Büchern und Theaterstücken.
Er war außerdem Assistent des amerikanischen Innenministers Stewart Udall (1964–1965) war Intelligence Officer während des Vietnamkriegs (1965-1968). Und unterrichtete danach Creative Writing an der Uni in North Carolina. (1971-81). Außerdem war er der Berater von David Frost für die Watergate-Interviews mit Richard Nixon (1966/77). Sein Buch „The Conviction of Richard Nixon“ ist auch die Grundlage für das Theaterstück und den Hollywoodfilm Frost/Nixon. (In dem Reston auch als Figur vorkommt, gespielt von Sam Rockwell). 1985 war er der von Newsweek, PBS, and BBC auserkorene Kandidat für den „ersten Schriftsteller im Weltall an Bord des NASA Space Shuttles. Das Vorhaben wurde nach dem Challengerunglück 1986 fallen gelassen.

Sibylle Tamin, geboren 1949 studierte Theaterwissenschaft und an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Sie arbeitet als freie Autorin für Fernsehen und Hörfunk und war jahrelang als Essayistin und Rezensentin bei der FAZ tätig. Stücke u.a.: „Schluss und Ruh. Ein deutsches Genrebild“ (DKultur/RBB 2005), „Der Fall Arnold“ (NDR 2013).

Zusätzliches Material

The Novelist’s Event: Fact, Fiction, and a Writer’s Search for a Universal Subject by James Reston Jr.

 

Stichwörter:

Sekte, Massenselbstmord, USA

Das Glück kommt aus der Villa

Als ein Lehrer in Bremen der Feature-Autorin Margot Overath erzählte, dass eine Schülerin nicht mehr in den Unterricht komme und arbeiten müsse, weil sie 20.000 D-Mark Telefonschulden habe, begann sie sich für die Villa zu interessieren. Sie nahm Kontakt zur Firma Audioland auf, die ihr 500 Freiminuten gab, wählte 0190-577995 und drückte die Taste 4: „Mein Name ist Margot Overath, ich bereite ein Radiofeature über die Villa vor. Wer hat Lust mitzumachen? Ruft mich bitte an oder meldet euch auf meinem Schreibtisch. Danke.“ In einem Gespräch 2019 sagt Margot Overath, dass es auch einen anderen Grund für ihr Interesse gab.

„Also für mich wars interessant als jemand der aufs Hören fixiert ist – es heißt ja auch an einer Stelle: Ihre Ohren werden Augen machen – und das stimmt auch! Unser Genre ist ja dafür da, dass die Ohren Augen machen. Die Villa ist ja so akustisch ausgestattet, dass jeder Raum seine eigene Akustik hat, seinen eigenen Ton, und da a trifft man auch Leute, die so eine Affinität zu Tönen haben. Und man muss bedenken, dass das damals ja was ganz Neues war, dieses Akustische als Angebot mit mehreren zu erleben.“

Das Stück beginnt mit dem Rattern und Klickern der analogen Telefonverbindung. Dann irgendwann (bei 3’39) ertönt eine freundliche Stimme: „Hej, hier ist die Villa Hamburg. Wenn du schon Villabewohner bist, drücke bitte die Taste eins auf deinem Telefon. Wenn du Gast bist und nur mal reinschauen möchtest, dann drücke die Taste zwei. Piep.“ Die Besucher sind anonym unterwegs. Sie wählen sich Decknamen: Erdbeere, Rosinchen, Postman, Kuschelbär, Susi, Puschelöhrchen, Mr. Spock, Bibo. Wer erst einmal die Funktion der Tastenkombinationen auf dem Telefon kapiert hat, kann mit der Akustik eines Fahrstuhlgeräuschs nach unten in den Keller fahren und von dort vielleicht in den Partykeller gehen, wenn er Gesellschaft sucht. Taste 4 bedeutet: ich will etwas sagen, Taste 6: ich will hören, was die andern sagen. Es ist aber nicht so, sagt Margot Overath, „dass wie in einer Telefonkonferenz alle live miteinander verschaltet sind und gleichzeitig sprechen können, sondern die Fragen und Antworten werden aufgezeichnet und zeitversetzt eingespielt, was zu teilweise absurden, oft aber lustigen Gesprächen führt.“

Das Stück simuliert mit üppigen sounds, mit unzähligen Fragmenten aus dem Kosmos miteinander telefonierender Stimmen und einer suggestiven Musik in der Regie von Nikolai von Koslowski die klingelnde akustische Welt der Villa. Das Material stammt aus den Mitschnitten der Autorin, die ihr Aufnahmegerät immer einschaltete, bevor sie sich in die Villa einwählte. Dazu kommen Interviews mit den Machern, Organisatoren und Profiteuren. Und schließlich die Gespräche mit den Villabesuchern, die sich auf den Aufruf der Autorin hin gemeldet haben. In diesen Gesprächen erzählen die Villabesucher eindrücklich, wie sie das Spiel gepackt hat. Einer sagt: „Es war ein unheimliches Glücksgefühl. Man geht da rein und man wird beachtet!“ Sie erzählen am Ende auch, wie die Telefonrechnung wuchs und wie sie sich verschuldet haben. Aber was dominiert, ist die Faszination der akustischen Imagination, die schöne Vorstellung, die für die Villabesucher auch dann noch attraktiv ist, wenn sie längst als Illusion enttarnt worden ist.

Die Diskussion in unserem Team über das Stück war kontrovers.
Beim Thema „Anfänge der sozialen Netzwerke“ gab es zwei Meinungen:

„Jemand sagt, wenn er nur den Piepton höre, bekomme er schon Herzklopfen. Ich finde, wir sind noch nah genug dran an dieser Epoche, dass wir den Mann sofort verstehen und ich finde, der Zeitpunkt ist gut, sich die Anfänge der sozialen Netzwerke nochmal erzählen zu lassen, mit diesem Stück Audiorealismus von 1995.“

Und es gab diese andere Position:

„Hier wird mit leichtem Schauer von einem sich abzeichneneden ‚Cyberspace‘ gesprochen. Die Villa repräsentiert nicht nur die Villa, sondern die sich abzeichnenden sozialen Medien überhaupt. Und für diese Welt gibt es offenbar nur ein Narrativ: gefährlich, Parallelwelt, macht süchtig. Dass sich die berühmte schöne neue Onlinewelt in sehr unterschiedliche und differenzierte Richtungen entwickelt hat, ahnt dieses Feature nicht voraus, und das macht es in gewisser Weise auch ein bisschen naiv.“

Auch bei der Frage, ob es sich bei dem Stück um eine gelungene oder nicht gelungene Immersion handelt, gab es verschiedene Meinungen:

„Diese Kulturradiosprecherinnenstimme ist nervig.“

„Es gelingt, ein full-scale-Feature (also mit Anbietern, Kunden, Experten, Autorenkommentar, das ganze Programm) immersiv zu gestalten, also so, dass man akustisch tatsächlich die ganze Zeit im Bannkreis dieser seltsamen 0190-Telefonvilla aus den 90ern steht.“

„Wenn det Audiorealismus ist, heiß ich Horst! Ich wäre lieber viel konsequenter in der Villa geblieben und hätte mich so richtig in diese furchtbare Welt hineinziehen lassen wollen.“

In einem Gespräch mit Margot Overath am 3. Spetember 2019 geht es genau um diesen Punkt.

Marianne Weil

Gespräch mit Margoth Overath vom 3.9.2019

 

MW: Könntest du dir vorstellen, dass du heute nach 25 Jahren vom Stil und von der Machart her etwas anders machen würdest?
MO: schwierige Frage, ich kann mich nur erinnern, dass diese Kritik damals schon kam – Featurekonferenz – ich hätte gar nicht aus der Villa rausgehen dürfen, die Sprecherin nervt total, es war im Anfangsentwurf so, dass da weniger Sprechertext war beziehungsweise der Sprechertext nicht so trocken stand, also dass mehr Villa-Gespräche und Geräusche mitliefen, aber wir haben uns dann dafür entschieden – weil das nämlich auch nervig ist, wenn man immer nur dieses Gedudel um die Ohren hat, und sinnvolle Gespräche kann man ja auch nicht wirklich aufnehmen, weil durch dieses versetzte Antworten – wenn man da nicht direkt dabei ist, findet man das noch witzig, aber wenn man im Radio ist und dieses versetzte Antworten hört, kann man sich fragen, muss das denn wirklich sein. Also musste sone Balance gefunden werden, einerseits Töne aus der Villa, Mitschnitte aus der Villa, die gut zu hören sind, Leute die sich bereit erklärt hatten, dass ich deren Einspielung aufnehme, und andererseits einen Text, der das Ganze bindet und zusammenfasst und erklärt – denn offenbar ist es ja schwer zu verstehen, wenn man das nicht selber mitgemacht hat.
Ich hab den Eindruck, du hast es noch nicht richtig verstanden
MW: Nee – zur Hälfte – dieses Zeitversetzte – da unterhältst du dich ja nicht richtig, aber es gibt anscheinend Räume, in denen du zu Zweit telefonieren kannst
MO: Ja, das Badezimmer, Schlafzimmer, Kühlschrank, da passen auch nicht so viele Leute rein, die waren auch ganz beliebt und oft belegt – die anderen Räume, da drängelte es sich manchmal und wenn da jemand ein Thema aufbrachte – lass uns über den und den Film reden – musste man sehr viel Geduld haben, weil es keine Antworten gab auf die Frage, sondern immer nur abgespielte Antworten bis zur nächsten Frage – also alle fragten und jeder antwortete, und es passte nicht zusammen – ja, hab ich die Frage beantwortet? … ach die Sprecherin
MW: es geht immer son bisschen darum, wie definiert sich die Autorenhandschrift
MO: Ja, ich bin dafür bekannt, dass ich Text schreibe – meine Hörerinnen und Hörer beschweren sich darüber nicht, aber eben manche Redakteure oder Autoren finden das nicht originell genug, also zum Beispiel kam mal Kritik von Helmut Kopetzky: du hättest auch den Autorentext durchs Telefon kommen lassen sollen – man kann ja nicht sagen, dass da wenig Atmos ist
MW: nein, das kann man nicht sagen, aber was man sagen kann, ist, dass die Kontrolle behalten wird, das Stück haut nicht ab
MO: ist mir auch lieber so – ich hör auch lieber so, wo ich weiß, worum es geht – ja, es geht um die Spitzfindigkeiten, wie kann man es anders machen, radiophoner machen, sagen Kollegen – das kann man natürlich machen, aber wir denken da nicht unbedingt an die Hörerinnen und Hörer, die nicht vorher mitdiskutiert haben und nicht im Kollegenkreis sagen, das und das und das hat der und der besser gemacht, und man muss einen Schritt weitergehen, kann man ja sagen, is mir egal, also innovative Sachen sind immer wichtig, aber ehrlich gesagt, ich denk auch ganz gern an die Leute, die vorm Radio sitzen und die das mitkriegen sollen – das war mir auch wichtig, diese Diskrepanz zwischen Faszination und Verzweiflung zu zeigen – ich kann natürlich die ganze Zeit die Villa laufen lassen, aber – ja, is die Frage – (Lachen).

Biografie

Margot Overath, geboren 1947 in Krefeld, Autorin von Radio-Features und Fernseh-Dokumentationen, lebt bei Bremen. Sie studierte Sozialwissenschaften in Göttingen und Bremen, begann 1981 beim Jugendfunk von Radio Bremen als Feste Freie, wo sie die täglichen kleinen Beiträge machte und hin und wieder einen „Großen Popkarton“ von 90 Minuten Länge auf die Beine stellte.

„Wegen ihres Talents, Interviews zu führen und Sachen herauszubekommen, die andere nicht herausbekommen, fiel Margot Overath dem Hamburger Institut für Sozialforschung auf, bei dem die ausgebildete Betriebswirtin und studierte Sozialwissenschaftlerin zwischenzeitlich an einem Projekt zur Terrorgruppe Rote Armee Fraktion (RAF) arbeitete. 1985 erstellte sie ein Feature über den RAF-Aussteiger Peter-Jürgen Boock und 20 Jahre später eines über die RAF-Mitbegründerin Gudrun Ensslin.“ (Jochen Meißner, in: Medienkorrespondenz 19.9.2016)

2016 wurde sie mit dem Axel-Eggebrecht-Preis ausgezeichnet. Aus der Begründung der Jury: „Eine lebendige Gesinnung wird man bei Margot Overath nie vermissen. Sie hört hin, wo andere weghören. Sie nimmt die Fäden scheinbar abgeschlossener Vorgänge und Entscheidungen auf, ordnet sie neu – und plötzlich ergeben sich neue Webmuster.“

Ausgewählte Radiostücke

„Spurenakte 59 – über einen Justizirrtum und einen zu Unrecht wegen Mordes verurteilten Mann“ (RB 1995)
„Die Schlafkur. Protokoll eines Psychiatrieirrtums“ (SFB-ORB/WDR/NDR 2000)
„Verbrannt in Polizeizelle Nummer fünf. Der Tod des Asylbewerbers Oury Jalloh“(MDR/NDR/DLF 2010)
„Oury Jalloh – die widersprüchlichen Wahrheiten eines Todesfalls“ (MDR/NDR/WDR 2014), ausgezeichnet u.a. mit dem Robert Geisendörfer Preis und dem Feature Preis Bremer Hörkino
„Benno Ohnesorg. Chronik einer Hinrichtung“ (RBB/NDR/BR 2017)
„Oury Jalloh“ – Serie in 5 Teilen (WDR 2020)

 

Stichwörter:

Parallelwelt, Spiel; Telefon; Sucht

 

 

Springtime it brings on the shearing

„Some people hated it. I mean really hated it.“ Das schrieb Kaye Mortley in einer Email, nachdem wir uns eine Stunde lang über ihr Stück „Springtime it brings on the shearing“ unterhalten hatten. Ganz gut, daran erinnert zu werden, dass eine solche Auffassung von ‚Wirklichkeit im Radio‘ mindestens polarisierend sein kann. Es gibt ja auch einiges, was einem an diesem Stück wahlweise auffällt oder aufregt. Die gehauchten Stimmen. Die Langsamkeit. Die Wiederholungen. Das Gefühl des ziellosen Umherdriftens. Kaye Mortleys Stücke sind wie ein Trip in eine weite Ebene, in der Zeit und Schwerkraft zwischendurch ihren Dienst versagen. Besonders in diesem Stück, schon wegen seiner Länge. Und doch nennt es sich Feature. Und es hat sogar ein Thema, das einem auf den ersten Blick etwas entlegen vorkommt: Schafscherer in Australien.

Meine Erfahrung mit Kaye-Mortley-Stücken ist: es hilft, vorher ein bisschen was über sie zu wissen. Einen Kompass in die Hand gedrückt zu bekommen. Man hat dann eine kleine Sicherheit, und das erhöht die Bereitschaft, sich in ihren Hörwelten zu verlieren. Und „sie“ meint hier: sie, Kaye Mortley und sie, die jeweiligen Stücke.

Zunächst Kaye Mortley: vor vielen Jahren aus Australien nach Paris eingewandert, steht sie wie keine andere für das Radiofeature als Kunstform. Sie ist eng verbunden mit dem Atelier de Création Radiophonique und dessen langjährigen Leiter René Farabet. In dieser extrem einflussreichen Sendung wurden Impulse der experimentellen französischen Literatur für die dokumentarische Radioform fruchtbar gemacht. Und das zog internationale Kreise. Kaye Mortley war mit ihren Stücken auf internationalen Kongressen und Wettbewerben präsent, und wahrscheinlich wurden ihre Features am häufigsten in anderen Sprachen adaptiert – in diesem Fall von Barbara Entrup, deren fein ziselierte akustische Übertragungen beim SFB Maßstäbe setzten.

Und bei Springtime hilft dieser Hintergrund:

Der Beruf des Schafscherers gilt als australische Institution. Immer im Frühling ziehen die Männer als Wanderarbeiter von Farm zu Farm, packen die Schafe der Reihe nach an der Gurgel und scheren ihnen die Wolle ab. Kaye Mortley hat eine persönliche Beziehung zu ihnen; als Kind verbrachte sie zusammen mit ihrem Vater Zeit auf dessen Farm, hockte sich in die Ecke und sah und hörte dem Treiben der Scherer zu. Als arrivierte Radiokünstlerin, die inzwischen in Paris lebte, besuchte Kaye Mortley zusammen mit einem Toningenieur wieder eine Farm und verbrachte dort zwei Wochen, während denen hunderte Stunden an Aufnahmen entstanden.

Das alles aber wird im Feature nicht gesagt, zumindest nicht so gebündelt. Keine Zusammenfassung, kein Balkonblick, kein An-die-Hand-nehmen. Und auch keine Handlung. „Nothing ever happens. It’s like being somewhere.Was aber passiert, sind die typischen akustischen Stilmittel, der ’signature sound‘, an dem man Kaye Mortley sofort erkennt.

Leitmotivische Sätze, die immer wieder kommen: „Es war immer Frühling“.
Lange Geräuschaufnahmen, von denen manche dokumentarisch wirken und andere so, als sei der Aufnahmeort in Australien eigentlich ein Hörspielstudio. Beispiel sind die endlosen Schritte, die immer wieder zu hören sind.

Musik, die kommt und wieder verweht.
Beschwörung von Farbwerten („Die Straße war blau, dann rot.“)
Mehrschichtigkeit: zum Beispiel die erwähnten Schritte und gleichzeitig ein Lied der Schafscherer.
Extrem verknappte Übersetzungen mit starkem Verfemdungseffekt. Durch ihre Kürze wirken sie bereits wie Formeln oder poetische Verdichtungen; sie werden oft in einigem zeitlichen Abstand zu den Originalstimmen platziert (‚it’s another strand of narration‘), und die oft etwas somnambul klingenden Stimmen der Schauspieler (darunter Größen wie Otto Sander) tun ein Übriges, um den Eindruck konventionellen journalistischen O-Tons zu tilgen.

In diesem kunstvollen Klanggemälde kann man sich verlieren und alles nur noch als Sound hören. Was aber in dieser Manier gesagt wird, ist keineswegs immer wolkig. Es kristallisiert sich heraus: Die Schafscherer haben eine Geschichte. Sie singen melancholische Lieder. Sie betrinken sich, sie feiern nach der Arbeit. Eine Gewerkschaft haben sie gegründet, die Eisenbahn hat ihr Leben verändert. Den Wolhlstand des Landes haben sie mit aufgebaut und sind immer underdogs geblieben. Befragt man Kaye Mortley zum Inhalt, sind die Antworten sachbezogen und informiert. Ein gewaltiger Männerüberschuss hat für lange Zeit die australische Gesellschaft geprägt; Armut, Rauhbeinigkeit, Machismus, auch Angst vor Frauen gaben den Ton an – auch dafür stehen die Schafscherer.

Im Stück aber ist all das unauflösbar verbunden mit der Beschwörung eines Erinnerungsraums, mit der fast graphischen Art, Soundelemente entlang der Zeitfläche zu platzieren, mit ihrem Formwillen, der dokumentarische Aufnahmen und Beobachtungen zu Formeln und Archetypen destilliert. Die oben erwähnten Elemente, die Farbwerte (Farben bei Mortley wäre eine eigene akademische Arbeit wert), die Geräusche, die Lieder: sie sind der beobachteten Wirklichkeit in Australien entnommen und führen in der Radiokomposition ein Eigenleben. Wenn dort ganz langsam sich ein Bild aufbaut aus Schritten, Farben und Liedern, fühlt es sich an, als würde auf einer weißen Leinwand die Welt, die zuvor mit Auge, Ohr, Mikrofon und Erinnerung aufgenommen worden war, nochmal ganz neu aufgebaut. Ein komplexes, eigenwilliges Werk. Wenn man Wirklichkeit im Radio verhandelt, darf es nicht fehlen.

Ingo Kottkamp

Gespräch mit Kaye Mortley 2019

 

Thema und Zugang

Stellung in ihrem Werk

Übersetzung

Zwei Wochen Aufnahmen

Mythos Schafscherer

Männerüberschuss in Australien

„Nichts passiert“

„Ich improvisiere nie“

Biografie

Kaye Mortley, 1943 in Sydney/Australien geboren, gehört zu den bedeutendsten Featureautorinnen der Gegenwart. Seit 1981 lebt sie in Frankreich. Für ihre klanglich anspruchsvollen Produktionen erhielt sie zahlreiche Preise. Kaye Mortley studierte Literaturwissenschaft in Sydney, Melbourne und Straßburg, wo sie promovierte. Von 1973 bis 1981 war sie Mitarbeiterin der Hörspiel- und Featureabteilung des Australischen Rundfunks. Seit 1981 arbeitet sie, mit Wohnsitz Paris, als freie Autorin für französische, australische und deutsche Rundfunkanstalten.

Ausgewählte Radiostücke

„Dort oben – Struthof. Das französische Lager“ (SR/DRS/SFB/ORF 1997)
„Fremd im Elsass“ (DRS/ORF/RBB 2004)
„Theben, ein Roadmovie“ (DLR Berlin 2004)
„Lola und der rote Fiaker vor der Votivkirche“ (DKultur 2013)

 

Stichwörter:

Australien; Schafzucht; Männergesellschaft

Ein weites dunkles Land

Das dunkle Land der Psychiatrie betritt man durch ein scheppernd und rasselnd zuschlagendes Tor, das wie ein Gefängnistor klingt. Aus dem Nachhall des Geräusches steigt die klare Stimme eines Mannes auf, der von seinem „Delirium“ erzählt. Wie ihn Stimmen bedroht haben: „jetzt holen wir dich, jetzt holen wir dich“. Wie rote Fäden um ihn herumschlängelten und ihm den Garaus machen wollten. Wie schließlich seine Frau, die die Fäden nicht gesehen hat, ihn ins Krankenhaus bringen musste.

Nicht alle Menschen sprechen so präzise und klingen so souverän wie dieser Maschinenbauingenieur auf der Innenseite des zugeschlagenen Tores. Im Verlauf des Stückes werden viele andere Varianten der Artikulation auftreten: das Stakkato einer erfundenen Sprache, das Lallen eines erwachsenen Heimkindes, das nie Sprechen gelernt hat, das Schreien einer Frau in der Isolierzelle, das Stöhnen eines alten Mannes, der Angst hat, dass er nicht in sein Bett zurück darf.

Klaus Lindemann schreibt nicht über die Psychiatrie, sondern geht dorthin. Er begleitet Ärzte und Pfleger, vor allem aber ist er teilnehmender Beobachter und nimmt Szenen auf. Er versucht das dunkle Land auszuleuchten und geht ins Badezimmer, in den Schlafsaal, in die Küche und auch in die Isolierzelle. Und kommt mit schmutzigen, teilweise verrauschten, teilweise technisch brillianten Aufnahmen von hoher Intensität zurück. Der Autorentext ist sparsam, er erschließt die Orte und informiert darüber, wer gerade spricht. Und er beschreibt Sinneseindrücke, die man nicht hören, aber riechen kann.

Die Szenen sind eindringlich und nicht zitierbar, denn sie folgen keinem Skript. Ein Mann sagt zur Ärztin in einem erfundenen Schnellsprech mit englischen Brocken, etwa das: „stetokrisirisidokfaiiwassaweckisrumailawjudownidijugoodold“, aber ungefähr drei Mal so viel. Sie solle das mal wiederholen. Die Ärztin sagt: „Sie überschätzen mich erheblich, das kann ich nicht“, der Mann daraufhin: „Dann wissen sie noch weniger als ich“ und fordert sie auf, ihn in die Universitätsklinik zum Test zu bringen, denn in der anderen Klinik seien die Ärzte viel zu dumm gewesen, viel zu dumm.

Aus der Isolierzelle kommen die Schreie einer Frau, Fäuste wummern gegen die Tür. „Ihr Schweine! Ihr Schweine!“ Der Arzt öffnet die Tür und spricht mit Elisabeth, die sagt, dass sie sich ungerecht behandelt fühlt, dass sie keine grünen Bohnen knacken will und dass sie die Fensterscheiben mit der Faust eingeschlagen hat, weil sie nicht in die Gemeinschaft aufgenommen wird. „Noch etwas?“ fragt der Arzt. „Nein“, sagt Elisabeth. Aber es ist nicht die Information aus dem Gespräch, die die Szene so besonders macht. Es ist der Ton des Arztes, der die Patientin duzt, dessen feste Stimme präzise Antworten einfordert und demgegenüber die eben noch wütend hämmernde Elisabeth steht, die ihn siezt, die eher leise antwortet, mit Resignation und Trotz in der Stimme. Das Gefälle von Macht und Hilflosigkeit, von Fürsorge und Fesselung. Nachdem die Schwester Elisabeth aus der Isolierzelle geholt hat, sitzt sie da, wo sie nicht hinwollte, in der Küche beim Bohnenknacken. Man hört einen Singsang von Frauenstimmen, darunter eine, die weint, und erfährt vom Erzähler, dass es Elisabeth ist, die weint und dass es die Schwachsinnigen sind, die sich summend und klagend Elisabeth angeschlossen haben.

Wir waren uns wie bei kaum einem anderen Stück schnell einig, dass es zu den Favoriten gehören soll.

„Dieses Stück habe ich vor zehn oder 12 Jahren gehört und es lag mir schwer im Magen: dunkles Land. Jetzt erst merke ich, wie gut es gemacht ist, mit welch leisen und eindringlichen Mitteln es erzählt ist. Wie es mit Räumen und Fluren und Distanzen spielt.“

„Die Protagonisten sind einfach dermaßen gut ausgewählt. Ich liebe jeden einzelnen davon! Und auch den Erzähler, der hört, schaut, nur das Nötigste erklärt, klug ohne sich aufzuspielen.“

Stephen Erickson, Tonmeister und Klangkünstler, schrieb im Sommer 2019 seine Erinnerung an Klaus Lindemann auf:

„Ich erinnere mich, wie ich mit Klaus im Studio war, während er Regie führte. Damals stellte ich ihn mir als Dirigenten vor, der den Instrumenten Einsätze gab, den Bläsern, den Trommeln, nicht den Geigen. Maschine eins, Maschine zwei, lauter, Blende. Erst später merkte ich, dass ich alles falsch verstanden hatte, Klaus war kein Dirigent, er malte. Klaus war und blieb in erster Linie Maler, er schuf Bilder, nur war im Tonstudio seine Palette akustisch, seine Farben waren Töne.“ (Die vollständige Erinnerung siehe unten.)

Das Thema Psychiatrie war hochaktuell in den 1970er Jahren, in denen das „Irresein“ als der Aufschrei der Unterdrückten interpretiert wurde. Die Antipsychiatriebewegung kritisierte die gängige Praxis der Fixierung, Zwangsmedikamentierung und Elektroschocks. Sie prangerte den entwürdigenden Alltag in den Psychiatrien an, das Zusammensperren von Drogenkranken mit Schwachsinnigen, mit Depressiven und Schizophrenen. In den Archiven der Radioanstalten liegen zahlreiche Features aus diesen Jahren, die über die neuen Wege der Psychiatrie in Italien berichten, über Arzt-Patienten-Kollektive oder über Versuche, in denen die Patienten als Schauspieler auf der Bühne, als Maler oder als Komponisten gefeiert wurden.

Klaus Lindemann hält zu allen Varianten gleich große Distanz. Er agitiert nicht und analysiert nicht, er stellt nicht aus und verklärt nicht. Sehr viele verschiedene Stimmen kommen zu Wort, auch Menschen, die sich kaum artikulieren können und Fürsprecher brauchen. Ein Wunder, dass das damals so möglich war.

Marianne Weil

 

Meeting Klaus Lindemann

Von Stephen Erickson

It was 1984. Still young to radio I’d taken a job wildly beyond my experience -Program Director for a chaotic free radio station in New York City. On accepting the position one condition I’d set was that I would be able to make a planned trip to Berlin before I began.

Two years earlier I’d first heard the English language version of Bells in Europe, – Glocken – I hadn’t even noticed the assistant for the production was Klaus Lindemann. Bells changed my life. I searched out Leo Braun, the maker, contacted him, asked to come to Berlin to work with him in some capacity. He responded something about “like clouds in the wind, everything changes” he was no longer making documentary, he was now leading the documentary department. Supportive, he mentioned a colleague would be coming to New York to participate in a radio workshop and he’d put us in contact.

1983. A hotel ballroom in NYC. Klaus Lindemann presents excerpts from a collection of works to a gathering of radio freaks, mostly younger makers trying to find their way in the diverse US radio territory.

After his presentation Klaus and I introduced. In the hotel bar we talked radio. Breathing rarefied air. With little idea what was to follow I told my story, saying I wanted to learn more about making German features. Klaus suggested that when he had a production I come to Berlin for a couple weeks so I could observe, learn. There we left it, Klaus saying that at the moment there was nothing appropriate in his schedule. He’d be in touch.

Some months later a letter arrived, asking could I come to Berlin the first weeks of April 1984. He had a program to make, it wasn’t an important program but one with good elements and problems I might learn from.

Bags packed, flight booked. I arrived for a 3 week stay.

Now, half a step back in our story. Back to that earlier meeting in New York. At the radio gathering, among the excerpts Klaus played was one from a production he’d recently finished. Reading a transcript while listening was a new experience. I understood it was something from mental hospitals, from the sound something important, but something horrible. It lingered, left me unsettled.

Now in Berlin I had a daily schedule. At noon, in an edit room noon I’d listen to features that Klaus selected. All with English transcripts. Eclectic. The story of Lesconil a wonderful French production exploring the changes in the acoustic landscape, a Finnish program that unfolded so slowly it seemed time stood still, and among the German programs, A Far and Dark Country, the program I’d heard the excerpt from the year before. The impression, still stronger.

Later, in the afternoons, I’d meet Klaus, our assistant (sorry but I forget your name but not the wonderful smoked eel you brought back from a weekend at the Ostsee) and Bambi our ton engineer for the evenings of studio work. It was a small production about PfauenInsel, not a feature from Klaus, he was directing and unhappy with the author who didn’t allow at the sessions.

I watched, listened, learned. As Always I learned slowly. I still see the studio, tape machines, still hear the exchanges between Klaus, the assistant and Bambi. Even now I smile. Machines cued, mix begins, the assistant misses a start point but something unexpected happens, something that was at times the magic of analog radio production. Klaus turns to Bambi and says, again just so, but that last fade needs to be a bit longer. A disagreement, the fade was perfect. Again the start, the mix, the same fade. Silence. From Klaus a quiet scowl. Machines again re-cued and now a new fade. Serious and playful.

When these studio sessions ended, about six hours, off to the Florin with Klaus for dinner, drinks, conversation – lasting late. At the time I understood that in these “after hours” I was getting my real lesson, the listening was crucial, the studio fantastic, but the conversation, when it was often just me and Klaus for hours, if the air in New York was rarefied, for a young program maker this was spiritual.

When I returned to New York I was on a mission. I needed to introduce my colleagues to radio as I had experienced it in Berlin. The depth, the delicacy, an unbending power. And where Bells remained a life force, a wonder in it’s blend of subtly and grandeur, A Far and Dark Country had gravitated to a place of awe.

Now, when asked to say some words of introduction, to Ein Weites Dunkles Land, I hesitated. I hadn’t heard the program for perhaps 15 years. But in the years from first hearing excerpts in New York in 1983, to eventually moving to Berlin, learning German, then eventually hearing without need of a translation, the power never diminished. I have a copy, suggested that perhaps I would listen again before I write these words. I have not.

I hear it now as Klaus might have wished. I hear it as a radio maker. I hear stories, I hear the elegant long fades, the abrupt cuts, the blend of delicacy and brutality. I hear it as pictures painted on my soul. Klaus was a painter.

I recall a long presentation from Leo Braun, his concept of acoustic film. I remember being in the studio with Klaus, his directing a production. At that moment I imagined him conducting an orchestra, calling the winds, the drums, not the violins. Machine one, machine two, volume up, fade. Later I realized I had it all wrong, Klaus wasn’t directing an orchestra at all, he was painting, for Klaus was foremost and always a painter, he created pictures and in the audio studio his pallet was acoustic, his color was sound.

Seldom does a person take a gift in one medium and transfer it so completely to another.

A masterwork in imagery. Ein Weites Dunkles Land. The pictures haunt me still.

I’ll listen again now.

Begegnung mit Klaus Lindemann

Von Stephen Erickson

1984, als Neuling im Radio, hatte ich einen Job übernommen, für den ich kaum Erfahrung mitbrachte – Programmdirektor eines chaotischen freien Radiosenders in New York City. Ich hatte die Stelle unter der Bedingung angenommen, dass ich vorher eine bereits geplante Reise nach Berlin antreten konnte.

Zwei Jahre zuvor hatte ich zum ersten Mal „Bells“ gehört, die englische Fassung von „Glocken in Europa“; dass der Produktionsassistent Klaus Lindemann hieß, war mir damals gar nicht aufgefallen. Diese Glocken sollten mein Leben verändern. Ich besorgte mir den Kontakt des Autors Leo Braun, schrieb ihm und fragte, ob ich nach Berlin kommen und in irgend einer Funktion mit ihm zusammen arbeiten könne. Er antwortete etwas in der Art von „alles ändert sich, wie Wolken im Wind“, er mache jetzt keine Dokumentationen mehr, leite die Featureabteilung. Aber er wollte mir weiterhelfen und erwähnte, ein Kollege komme demnächst nach New-York um an einem Radio-Workshop teilzunehmen, er werde uns beide in Kontakt bringen.

1983, der Ballsaal eines Hotels in NYC. Klaus Lindemann präsentiert Auszüge aus verschiedenen Stücken vor einigen meist jüngeren Radiofreaks, die sich in der vielfältigen US-Rundfunklandschaft orientieren wollen.

Nach seinem Vortrag stellte ich mich Klaus vor. In der Hotelbar sprachen wir über Radio. Atmeten Höhenluft. Ziemlich ahnungslos was die Konsequenzen betraf, erzählte ich meine Geschichte und sagte, ich wolle mehr darüber erfahren, wie die Deutschen ihre Radiofeatures machten. Klaus schlug vor, ich solle zu einer seiner nächsten Produktionen ein paar Wochen nach Berlin kommen, ihn beobachten und lernen. Dabei beließen wir es, Klaus meinte, im Moment habe er nichts Passendes geplant. Er werde sich melden.

Einige Monate später kam sein Brief: ob ich 1984 in den ersten Aprilwochen nach Berlin kommen könne. Er werde eine Sendung mischen, nichts Bedeutendes, aber mit guten Elementen und Schwierigkeiten, aus denen ich etwas lernen könne.

Koffer gepackt, Flug gebucht. Ich reiste an um drei Wochen zu bleiben.

Noch mal ein bisschen zurückgespult. Zurück zu diesem ersten Treffen in New York. Unter den Ausschnitten, die Klaus bei der Radio-Konferenz spielte, war einer aus einer frisch beendeten Produktion. Ein Transkript lesen, während ich eine Sendung anhörte, war ungewohnt für mich, aber immerhin verstand ich, dass es um psychiatrische Kliniken ging, vom Klang her war es etwas Bedeutsames, aber auch Schreckliches. Es blieb hängen, ließ mich nicht los.

In Berlin angekommen, hatte ich sofort einen Tagesplan. Mittags hörte ich mir in einem Schneideraum die Features an, die Klaus für mich ausgesucht hatte, immer mit englischen Transkripten. Eine eklektische Auswahl. Die Geschichte von Lesconil, eine wundervolle französischen Produktion, die die Veränderungen in der akustischen Landschaft erkundet. Ein finnisches Programm, so langsam erzählt als stünde die Zeit still. Und unter den deutschen Programmen war „Ein Weites dunkles Land“, die Sendung also, aus der ich ein Jahr zuvor den Ausschnitt gehört hatte. Diesmal war der Eindruck noch stärker.

Später am Nachmittag sollte ich Klaus, unseren Assistenten (Entschuldigung, ich habe Ihren Namen vergessen, aber nicht den köstlichen Räucheraal, den Sie von einem Wochenende an der Ostsee mitbrachten) und den Toningenieur Bambi, bei der Arbeit im Studio treffen. Es war eine kleine Produktion über die Pfaueninsel, Klaus führte Regie und war unzufrieden mit dem Autor, den er nicht ins Studio ließ.

Ich habe zugesehen, zugehört, gelernt. Wie immer lernte ich langsam. Ich sehe immer noch das Studio vor mir, die Bandmaschinen, höre das Gespräch zwischen Klaus, dem Assistenten und Bambi. Noch heute muss ich schmunzeln. Die Maschinen warten, die Mischung beginnt, der Assistent verpasst den Startpunkt, aber es passiert etwas Unerwartetes, das gehörte zur Magie der analogen Radioproduktion. Klaus dreht sich zu Bambi um und sagt, „noch mal genau so, nur die letzte Ausblende, die muss noch viel länger dauern.“ Eine Meinungsverschiedenheit, die Ausblende war perfekt. Noch mal von vorne, die gleiche Mischung, die gleiche Ausblende. Stille. Klaus runzelt ernst die Brauen. Die Maschinen laufen wieder an, eine neue Blende. Ernst und verspielt.

Am Ende dieser Studio-Sessions, die ungefähr sechs Stunden dauerten, ging es mit Klaus ins Florian zu Abendessen, Drinks und Gesprächen – bis spät in die Nacht. Nach und nach verstand ich, dass ich in diesen Extrastunden den eigentlichen Unterricht erhielt; hören war entscheidend, das Studio aufregend, aber in diesen oft stundenlangen Gesprächen — nur Klaus und ich — bekam der junge Radiomacher, der in New York schon Höhenluft geschnuppert hatte, seine spirituelle Unterweisung.

Zurück in New York hatte ich eine Mission. Ich musste meinen Kollegen die Radioarbeit vermitteln, die ich in Berlin erlebt hatte. Tiefe, Zartheit und eine unbeugsame Kraft. Die „Bells“ blieben ein Ausdruck der Lebenskraft, ein aus Subtilität und Erhabenheit gemischtes Wunder. „A Far and Dark Country“ hatte sich indessen für mich zu einem Ort der Ehrfurcht entwickelt.

Zunächst zögerte ich, als ich gebeten wurde, ein paar einleitende Worte zu „Ein Weites Dunkles Land“ zu sprechen. Vor etwa 15 Jahren habe ich die Sendung zuletzt gehört. Aber in den Jahren zwischen den ersten Hörproben in New York 1983 und meinem Umzug nach Berlin, dem Lernen der deutschen Sprache, so dass ich das Stück endlich ohne Übersetzung hören konnte, hatte es seine Kraft für mich nie verloren. Natürlich habe ich eine Kopie, schlug also vor, ich würde, vor dem Schreiben, die Sendung noch einmal anhören. Was ich nicht tat.

Jetzt endlich höre ich sie, wie Klaus es sich gewünscht hätte. Ich höre als Featuremacher. Ich höre die Geschichten, höre die eleganten langen Ausblenden, die abrupten Schnitte, die Mischung aus Zartheit und Brutalität. Ich höre das alles, Bilder, die auf meine Seele gemalt sind. Klaus war Maler.

Ich erinnere mich, wie Leo Braun einmal sein Konzept des akustischen Films vorstellte. Ich erinnere mich, wie ich mit Klaus im Studio war, während er Regie führte. Damals stellte ich ihn mir als Dirigenten vor, der den Instrumenten Einsätze gab, den Bläsern, den Trommeln, nicht den Geigen. Maschine eins, Maschine zwei, lauter, Blende. Erst später merkte ich, dass ich alles falsch verstanden hatte, Klaus war kein Dirigent, er malte. Klaus war und blieb in erster Linie Maler, er schuf Bilder, nur war im Tonstudio seine Palette akustisch, seine Farben waren Töne.

Es kommt nur selten vor, dass ein Mensch eine Begabung in einem Medium so vollständig auf ein anderes übertragen kann.

Ein Meisterwerk der Bildsprache. Ein Weites Dunkles Land. Die Bilder lassen mich nicht mehr los.

Jetzt werde ich es noch einmal anhören.

Biografie

Klaus Lindemann, Maler, Autor und Feature-Regisseur, geboren am 4. März 1930 in Gütersloh, studierte Malerei bei Karl Schmidt-Rottluff an der Hochschule der Bildenden Künste in Berlin. Seinen materiellen Lebensunterhalt für sein Leben als Maler erarbeitete sich Klaus Lindemann lange Jahre als Garderobier der legendären Bar „Volle Pulle“ im Hotel am Steinplatz. Peter Leonhard Braun holte ihn zum Sender Freies Berlin, wo Klaus Lindemann von 1969 bis 1993 als Dramaturg, Autor und Regisseur für die Feature-Abteilung arbeitete. Zwei seiner Radio-Features wurden mit dem Prix Italia ausgezeichnet: „Kann man Verdi ernst nehmen?“ (SFB/BR/NDR 1975) und „Ein dunkles weites Land“ (SFB/SDR/NDR 1982). Bei über 300 Stücken führte er Regie. Im Ruhestand, seit 1993, fing er wieder an zu malen. Klaus Lindemann starb am 31. Dezember 2004 in Berlin.

„Ein weites dunkles Land“ war Teil einer Feature-Reihe im SFB, die sich dem Thema Psychiatrie widmete.

Ausgewählte Stücke

„Die Berge des Orpheus“ (SFB 1973)
„Kann man Verdi ernst nehmen?“ (SFB/BR/NDR 1975)
„Das Dorf über dem See“ (SFB 1976)
„Ein weites dunkles Land“ (SFB/SDR/NDR 1984)

 

Stichwörter:

Psychiatrie; Gesundheitspolitik (BRD)

 

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