Mein Partner Hansipiepchen
von Charlotte Niemann und Matthias NiemannRegie: Unbekannt (wahrscheinlich Charlotte Niemann)
Mit: Dieter Hufschmidt
Produktion: RB 1973
Länge: 43'20
Ein O-Ton-Stück und zugleich ein beklemmendes Kammerspiel – das uns zuvor komplett unbekannt war.
Welserstraße 13, West-Berlin, 1973. Die Orts- und Zeitangaben sind präzise. Nur der Name der Protagonistin bleibt ungenannt. Erzählt wird, nach einigen Minuten Sprechereinleitung, konsequent im O-Ton. Wir haben also ein dokumentarisches Stück vor uns. Und doch ist die Atmosphäre, die beim Hören entsteht, eine Hörspielatmosphäre. Unwirklich, beklemmend, klaustrophobisch und trotz der präzisen Ortsangaben an einem Nicht-Ort angesiedelt wirkt dieses Stück. Wie ein Szenario von Beckett – oder wie ein Dokumentarspiel von Ulrich Seidl. Wie erklärt sich dieser scheinbare Widerspruch? Wie ist das Stück gemacht?
Am Anfang hören wir kurz die Stimmen der beiden Protagonisten. Erst von ihr: der namenlosen Frau, die im Mittelpunkt stehen wird. Sie verschickt ein Tonband mit einer Botschaft, so viel erfährt man fürs erste. Und dann: Hansipiepchen, ihr Wellensittich. Der aber nach Vogelart die Worte seiner Besitzerin wiederholt: „Du bist ein kleines Gottesgeschenk, du Süßer“. Eigentlich hört man also dieselbe Person zweimal: einmal als Absenderin einer Nachricht, von deren Empfang wir nichts wissen, und einmal als verzerrtes Echo durch die geisterhafte Stimme von Hansipiepchen.
Mit diesem Prolog im Ohr werden wir auf eine U-Bahnfahrt geschickt. Über den rumpelnden Geräuschen entwirft uns ein Erzähler eine Szenerie: von einem West-Berlin der grauen Mietskasernen, wo vorwiegend Rentner leben. Von einem geharkten Vorgarten und frischgebohnerten Treppenhaus, in dem die wenigen Kinder so diszipliniert sind, dass man sie gar nicht bemerkt. Fünfeinhalb Minuten dauert diese U-Bahnfahrt. Und obwohl es sehr wahrscheinlich die ‚echte‘ Bahn ist, mit der man vom Bahnhof Zoo hierhin gelangt, und sie auch nicht sehr kunstvoll aufgenommen ist (was ja auch oft ein Beleg für ‚authentische’ Aufnahmen ist), wirkt sie symbolhaft, wie eine Fahrt in den Hades – oder jedenfalls in eine Welt, die, abgekoppelt von ihrer großstädtischen Umgebung, in einer seltsamen Agonie liegt.
Kurz danach tritt der Erzähler ab – er wird nicht wieder vorkommen – und gibt die Bühne frei für die bis zum Schluss namenlose Protagonistin. Wir erfahren ein bisschen mehr darüber, was es mit den Tonbandbriefen auf sich hat. Sie sind an ihre Familie gerichtet, die irgendwo anders lebt und nie antwortet. „Was macht Ihr eigentlich? Ich kann auf nichts Bezug nehmen, weil ich nichts weiß. Deswegen rede ich nur von mir.“ Warum sie nicht antworten, kann man aus dem Charakter der Botschaften erahnen. Vielleicht, weil sie nichts hören wollen von ihren fürsorglich-strengen, christlich erweckten Mahnungen? Weil sie genug von den Schilderungen haben, in denen sie sich als Hausbesitzerin und -wärterin zeigt, die Mieter, Haus und Vorgarten fest im Griff hat und darüber vor Erschöpfung bald zusammenbricht? Zu so einer Mutter – oder ist es eine Tante? – hält man besser Abstand.
Doch der Hausdrachen hat auch eine zärtliche Seite. Einen unstillbaren Wunsch nach Liebe. Und dafür gibt es Hansipiepchen. Sie spricht gern und viel über ihn. Wie sie ihn gefunden hat, wie sie gleich einen Draht zu ihm hatte, obwohl er doch mit seinem fehlfarbigen Federkleid kein perfekter Vogel ist. Wie er auf ihrer Schulter sitzt und ihr so gerne zuhört, wenn sie ihm gedämpft erzählt. Und wie das drollige Tier seine Sprachlektionen immer wieder verlernt, sie sie ihm aber mit liebevoller Strenge immer wieder neu beibringt: „Ich liebe dich. Ich will immer bei dir bleiben.“ Das alles erzählt sie dem Reporter, den man hin und wieder kurz im O-Ton hört. Sie klingt dabei ganz anders als in den Tonbandbriefen – etwas tantenhaft, etwas geschwätzig, ganz eingenommen von der Drolligkeit ihres Haustiers. Und darin liegt die Besonderheit dieses Stückes: die Ebenen bleiben komplett voneinander getrennt. In den Tonbandbriefen redet sie ausschließlich über ihr schweres Leben als Vermieterin und die Tatsache, dass die Familie ihr nicht antwortet. Hier ist sie die Beleidigte, die Strenge, die Ungehörte. Im Interview gibt es nur ein Thema: Hansipiepchen. Hier ist sie die Liebevolle, die Verschmuste, hier zeigen sich Neigungen, die man nicht so genau ergründen will, wobei es für sie wichtig ist, dass der Vogel immer auf dem Stand eines Kleinkindes bleiben wird.
Sind die Tonbandbriefe echt? Es scheint so; es sind jedenfalls keine vorgelesenen Briefe, denn sie nimmt auf den Vorgang des Aufnehmens mehrfach Bezug. Was sagen die Nachbarn und die Hausbewohner? Was sagen die Verwandten? Wir wissen es nicht. Denn der Erzähler lässt uns nach seinem Eingangsszenario allein. Er ist kein Journalist, der erklärt, nachfragt, einordnet, die andere Seite anhört. Die zwei Seiten, die die Frau von sich zeigt, werden scharf ausgeleuchtet. Alles andere bleibt im Dunkeln. Und so wird die Isolation, aus der die Frau nicht herauskommt, ganz plastisch greifbar in der Konstruktion des Stückes.
Ist das nun ein dramaturgischer Kunstgriff? Oder ist es besonders dokumentarisch, weil die Darstellung sich auf die wirklich wichtigen Aspekte beschränkt? Wir kommen damit zu einer kniffligen Frage, die uns während des ganzen Rechercheprojektes immer wieder beschäftigt hat. Warum bringen wir in dieser Geschichte dokumentarischer Radioformen, die ihren Anfang beim Feature hat, ein O-Ton-Hörspiel, das auf einem Hörspielplatz lief und von einer Hörspielregisseurin inszeniert wurde? Hier wäre die große Runde möglich: Authentizität, Medienkritik, Identität, Repräsentation, Semiotik, was ist eigentlich ein O-Ton. Ich drehe hier eine kleinere, die direkt auf Hansipiepchen bezogen ist. Eine konventionellere, reportageförmige Featureform mit Klarnamen und erläuterndem und einordnenden Reporter, vielleicht noch mit soziologischen Infos oder auch mit launigem Autorentext (“Ich möchte Ihnen von meiner schrulligen Vemmieterin erzählen”) hätte sicher einige hier ungeklärte Fragen beantwortet. Aber wäre mehr Wahrheit ans Licht gekommen? Wir hätten ein anderes Hörspiel, eine andere Inszenierungsmaske gehört. Eine Figur wäre der Mensch, der hier ins Reportermikrofon gesprochen hat, auch so geworden. – Spielen wir Feature und O-Ton-Hörspiel nicht gegeneinander aus, wie es in den 70ern auf oft ideologische Weise geschah! Schauen wir lieber jedesmal genau hin, wer wie und mit welcher Intention mit dem dokumentarischen Material umgeht. Und lassen wir uns hinabziehen in den Hades des West-Berlins der 70er, der eine Phantasmagorie mit nicht abstreitbaren Anteilen von Realität ist.
Ingo Kottkamp
Biografie
Charlotte Niemann (1915-2013), Komponistin, Regisseurin, Kind einer Artistenfamilie, war ein Urgestein bei Radio Bremen, wo sie hunderte von Kinderhörspielen als Bearbeiterin und Regisseurin produzierte. Sie gilt als die Frau, die den Kinderfunk in Deutschland neu erfunden hat; sie hat Stoffe von Christine Nöstlinger, Janosch, Sempé, Jan Willem van de Wetering, von Isaac B. Singer, Peter Härtling, Peter Hacks und von vielen anderen adaptiert und oft selbst die Musik dazu komponiert. Vor allem in den 70er Jahren aber entstanden auch Features, oft mit Bezug zu Bremen, und dokumentarische Hörspiele. Gemeinsam mit ihrem Mann, dem Maler und Gafiker Walter Niemann, lebte sie zeitweise in der Künstlersiedlung Worpswede.
Matthias Niemann, von Beruf Stadtplaner, war ihr Sohn, er starb Anfang der 90er Jahre. Als seine damalige Adresse geben die Unterlagen die Welserstraße 13 an. Die lange U-Bahnfahrt in den Hades (siehe Text) führte also in Wahrheit zu seiner Vermieterin.
Ausgewählte Radiostücke
„Hommage à Oma“ (RB 1970)
„Gold, Geld, Pinkepinke, Penunse“ (RB 1971)
„Verlautbarungen über den Tod“ (RB 1978)
„Der Wind in den Weiden“, Kinderhörspiel (RB 1967)
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