Lifestyle
„Eines Nachmittags gehe ich mit der 12-jährigen Philine ins Kaufhaus, um Sportschuhe zu kaufen. Philine sucht sich welche von Adidas aus, sie haben den Namen ‚Lifestyle‘. Beim Anprobieren fragt sie, wo die Schuhe herkommen. Die Schuhe sind aus Vietnam. Doch was bedeutet das eigentlich: ‚Made in Vietnam‘? In der Konzernzentrale von Adidas im fränkischen Herzogenaurach arbeiten Menschen aus 42 Nationen, aber keiner von ihnen kommt aus Vietnam. Ich bin äußerst beeindruckt von den Ausmaßen der weltumspannenden ‚Adidas Corporate World‘. Niemand hier kann mir jedoch erklären, wie sie funktioniert. Und so begebe ich mich auf eine lange Reise in die Welt des Adidas-Konzerns.
Später, an einem verregneten Nachmittag in einem Hotelzimmer in Saigon, telefoniere ich mit Joel Enderle, dem Chef von Adidas in Vietnam. Er sagt, es sei ihm nicht erlaubt Interviews zu geben, und er bedauere dies, aber so sei das nun mal in der Corporate World. Ich lerne schließlich Mai kennen, eine junge Adidas-Fabrikarbeiterin. Es war Mai, die vor ein paar Monaten die weißen Schnürsenkel in Philines neue Schuhe eingefädelt hat. Und als ich dann doch noch Joel Enderle treffe, kommen vermutete und unvermutete Zusammenhänge zum Vorschein …“
Jens Jarisch hat mit diesem Feature den Prix Europa 2006 gewonnen.
Biographie
Jens Jarisch, 1969 geboren, aufgewachsen in Berlin, Teheran und Lima, lebt heute in Berlin. Er ist Leiter der Hörspiel- und Featureredaktion beim RBB, davor produzierte er selbst Feature und Hörspiele. Zahlreiche Preise, darunter zweimal der Prix Europa sowie der Grand Prix Marulić. Für „Kinder von Sodom und Gomorrha“ erhielt er den Prix Italia und den Premio Ondas. Zuletzt: „Shopping is Coming Home“ (RBB 2013, Ko-Autorin Susanne Franzmeyer).
Ach, wär die Welt doch ganz vertuppert
Üblich ist das nicht
Als ich das erste mal dieses Tupperstück gehört habe, war ich überrumpelt von so viel Witz und Respektlosigkeit. Wie frech war denn das, ein eher schwieriges Thema wie die Produktion von Kunststoffen gleich an den Anfang zu setzen und innerhalb von noch nicht einer Sekunde zu konterkarieren! Da sagt eine männliche Stimme „Polymerisation“, aber das Wort wird vernuschelt. Normalerweise würde das rausgeschnitten, aber hier nicht. Die Stimme spricht weiter über chemische Vorgänge und molekulare Verbindungen, unter allem spielt klassische Musik, dann kommt der Verweis auf die griechische Vorsilbe „Poly“. Zack. Schnitt. Man hört das zwitschernde Geräusch eines Tonbands im Schnelllauf. Und so ist innerhalb von 20 Sekunden klar, dass es irgendwie um einen chemischen Prozess geht, aber nicht ernsthaft.
Üblich ist das nicht.
Eine zweite Männerstimme tritt auf, ohne Musik, spricht in ein Diktaphon, ruhig, fast behäbig im Gegensatz zum hastigen Sprechen des Fachmanns für Kunststoffproduktion – irgendwann merkt man, es ist der Autor. Er bringt neue Wörter ins Spiel, spricht über Wissen, rituelle Vorgänge und Überlieferung. Kein Satz wird zu Ende gebracht, in jedes wichtige Wort wird hineingeschnitten, aber genau so, dass man es gerade noch versteht, dass man “ritu …” zu “Ritual” ergänzt oder “Überlie …” zu “Überlieferung”.
Üblich ist das nicht.
Unser Ohr ist jetzt auf schnell getaktete Wechsel eingestellt. Die zwei Männerstimmen sprechen knapp drei Minuten abwechselnd über Kunststoffe, Haushalt, Küche und etwas vielleicht Größeres namens Utopie. Die Musik – wobei man nicht wissen muss, dass es sich um Mozarts Zauberflöte handelt – signalisiert, dass es um mehr als Klamauk geht. Dann kommt der erste O-Ton. Frauenstimmen mit rheinischer Färbung sprechen über Tupperdosen, nur unterbrochen durch einen fröhlichen Werbesong für Tupperware. Es geht um runde Behälter, eckige Behälter und die Tatsache, dass darin alles frisch bleibt. Die Stimmen sind unbeschädigt, ganz normale O-Töne halt. Dann folgt der nächste Tabubruch. Der Autor sagt den Ort der Aufnahme an, Datum, Uhrzeit, Couchtisch, Zahl der Anwesenden und sagt dann: „Besondere Bemerkungen: Die Beraterin freut sich, dass wir hier noch mal in Marmagen sind.“ Darauf folgt der O-Ton der Beraterin: „Ich freue mich, dass wir noch mal hier in Marmagen sind.“ Krass! Walter Filz übernimmt das, was die Leute ihm ins Mikrofon sagen, in seinen Autorentext und lässt sie es dann „nachsprechen“. Er macht die Interviewten zum Papagei des Autors. Wie respektlos ist denn das! Aber lustig fand ich es auch. Und offen gestanden halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass die Damen von den Tupperpartys auch gelacht haben, als sie das hörten.
Aber üblich ist das wirklich nicht.
Hier gibt es kein storytelling
Als ich das Stück jetzt viele Jahre später erneut hörte, überraschten mich vor allem die vielen Wiederholungen. Zum Beispiel die Sache mit dem Diktaphon. Immer wieder diese Klangfarbe und dieser Stil. Der Autor mit der Lizenz zum Sprechen platziert sich auf der Hörbühne. Er hat sogar mehr zu sagen als nur Wörter, er sagt auch, wo das Komma hinkommt, ein Absatz oder ein Punkt. Was natürlich Quatsch ist im Radio und schon wieder ein Witz. Zum ersten Mal ist meines Wissens dieser Trick mit dem Diktaphon im Jahr 1970 angewendet worden. „8 Uhr 15, OP III, Hüftplastik“ heißt das Feature von Peter Leonhard Braun, der damals das Ideal der sich selbst erzählenden Geschichte im Kopf hatte – bestehend aus 100 Prozent O-Ton. Braun inszenierte den ins Diktaphon protokollierenden Chirurgen als in der Szene verankerte Erzählerfigur. Der Autor Braun wollte hinter seinem akustischen Material verschwinden. Der Autor Filz will, dass man ihn deutlich sieht. Beziehungsweise hört.
(Autor)
- November, Band eins, Aufnahmezeit 20 Uhr, Aufnahmeort Marmagen bei Euskirchen Nähe Bonn, Einfamilienhaus, Wohnküche, Sitzgruppe, Aufnahmesituation: Sitze zusammen mit ca. 10-12 Frauen, 20-60 Jahre alt, vor Kieferncouchtisch, Stimmung aufgeräumt, Aufnahmebedingungen normal, besondere Bemerkungen …
Wer so aufwändig die Umstände seiner Tonaufnahmen inszeniert, ist kein Illusionist. Er will das Publikum nicht in eine Geschichte hineingeziehen oder von einer spannenden Dramaturgie fesseln. Hier gibt es keine Protagonisten oder Konflikte und keine Entwicklung. Protagonist ist der Autor, der sich einem Phänomen zuwendet und seine Assoziationen spielen lässt. Der Autor agiert als Ethnologe, für den die ganz hohe Hochkultur und die zivilisatorischen Alltagsprodukte auf einer Ebene liegen. Unter den unzähligen Produkten der westlichen Warenwelt – Fernseher, Autos, Klamotten, Neckermannreisen, Lippenstifte, Schleifmaschinen – wählt er ein Produkt aus den Tiefen des Kühlschranks, ein Phänomen ohne Geschmack und ohne Geruch, aber beliebig aufladbar. Er kontrastiert es mit der Musik von Mozart: Zauberflöte und Tupperdosen – eine spannungsreiche, keineswegs naheliegende Beziehung bahnt sich da an.
Im Verlauf des Stückes spinnt der Autor ein Netzwerk an Verweisen und Bezügen von der Erfindung des Kunststoffs in den 1940ern bis in die Jahre der Nachwendezeit der 1990er, in der das Stück entstanden ist. Er besucht die egalitäre Welt der Tupperparties, die millionenfach und weltweit stattfinden. Er verliest die wunderbaren deutschen Namen der Dosen und Kannen, die Goldquell, Julchen, Heinerle, Salabim oder Rumpelstilzchen heißen. Dass Walter Filz die Geschichte von Earl S. Tupper als Märchen erzählt, mag damit zusammenhängen, dass er gerade über Märchenmotive in der zeitgenössischen Literatur promoviert hat. „Es war einmal in Amerika ein Chemiker … der arbeitete und forschte und forschte und arbeitete … und wenn die Tupperware nicht kaputt gegangen ist, dann steht sie noch heute im Schrank.” Aber unabhängig von diesem akademischen Hintergrund bietet das Märchen eine Erfählform mit griffigen Elementen und wiederholbaren Refrains, die zu dem mäandernden Erzählspaß rund um das ausgewählte Objekt der Forschung passt. Nichts ist zwingend, alles in Bewegung, man kann ein- und aussteigen wie bei einem Gesellschaftstanz.
Parallelaktion zwischen der Welt der Tupperparties und der Freimaurer
„Ach wär die Welt doch ganz vertuppert“ ist durch und durch musikalisch gebaut. Nicht weil Musik verwendet wird, sondern weil es wie Musik funktioniert: rhythmisch, mehrstimmig, mit Reprisen, Variationen, Kontrapunkten. Aber der eigentliche Knüller ist die Tatsache, dass die Zauberfköte den Status eines Akteurs erhält. Sie ist der dramaturgische Kontrapunkt zum sprachlich definierten Thema. Dass Mozart Mitglied der Wiener Freimaurerloge war, muss man nicht wissen, die Freimaurer kommen in der Zauberflöte gar nicht vor. Aber Walter Filz führt die Freimaurer in sein Radiostück ein. Ganz am Anfang noch undurchsichtig milchig durch hingetupfte Wörter wie geheimes Wissen oder Ritual, am Ende aber direkt. Er stellt die steile These auf: dass Tupperparties das weibliche Gegenstück zu den männlichen Logentreffen der Freimaurer sind. Die egalitären Tupperparties der Frauen und die elitären Geheimbünde der Mäner werden zusammengezwungen dass die Funken sprühen.
Die Musik der Zauberflöte und die Welt der Tupperdosen bilden eine Art Parallelaktion. Angelegt als eine Art Versuchsanordnung. Kunststoffe, Buttermilch, Ratespiele und Röstzwiebeln werden ständig aufgewertet und umgedeutet durch das klassische Opernorchester. Die Fallhöhe ist groß, die Spiellust ebenso wie das waghalsige Tänzeln zwichen den Welten. Und genau an der Stelle, wo die Engführung zwischen Tupperparties und Geheimlogen stattfindet, bei Minute 43’ bleibt dann der Gegensatz unaufgelöst. Eine männliche Stimme sagt: „Das Geheimnis der Freimaurerei ist im Endeffekt darin zu finden, dass es ein Erlebnis ist, aufgenommen zu werden” und die Vertreterin der Tupperwelt sagt das Gegenteil: „Man hat keine Voraussetzungen, man muss einfach Hausfrau sein”. Ein Witz im Witz.
Am Ende übrigens steigt der Autor höflich von seiner Diktaphon-Bühne herunter und spricht mit den Leuten, genauer: zeigt sich mit den Leuten sprechend. Jetzt sind sie eindeutig nicht mehr die Papageien des Autorentextes. „Sie hätten ja auch eine Frau schicken können.“ Eine Veranstalterin fragt vorsichtig, ob er denn ein „Reporter“ sei und Walter Filz stimmt dem ebenso vorsichtig zu, was er im echten Leben niemals tun würde. Auch sehr lustig.
Marianne Weil
Aus unserer Diskussion:
Wir waren nicht alle gleichermaßen begeistert. Mal war von Selbstverliebtheit die Rede, mal von l’art pour l’art. Hier zwei Ausschnitte aus unserer Diskussion:
„Ich finde nach 20 Minuten wird klar, das Thema ist nicht Tupper, sondern hier geht es allein um die Form selbst, eine verspielte, ironische Collageform, die ihr Sujet loslässt, herauszoomt in die großen Kontexte und je größer die werden, desto absurder (und manchmal witziger) wird es. So wie das Feuilleton manchmal sich selbst feiert, die Sprache an sich feiert.“
„Kühle. Postmoderne. Anti-Authentizität. Ironie. Aber auch: Leidenschaft. Immer noch einen draufgesetzt, immer noch eine Drehung weiter. Erzähllust als Erzählmotor. Ich frage mich, was ‘bleibt’ von solchen Features. Der Erkenntnisgewinn (wie weit sind wir wirklich über die Welt belehrt worden und was geschah mehr der Pointe willen) oder die Brillanz des Montierens, Interpretierens, Umdeutens, deren Stilmittel man benennen kann, die aber so nur Walter Filz hinkriegt?“
Biografie:
Walter Filz, Autor und Kulturjournalist, geboren 1959 in Köln, studierte in Köln und Zürich Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Er promovierte über Elemente des Märchens in der deutschen Literatur der siebziger Jahre. Seit 1983 arbeitet er vor allem für das Radio. Nach 1990 sind mehr als 50 Features und Hörspiele von ihm erschienen. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen „Der Affe zu Köln“ (2010) sowie „Es ist noch Känguruschwanzsuppe da: Die Wahrheit über den Kölner Karneval aufgrund der Beweismittel meines Vaters“ (2018). Ausgezeichnet wurden seine Hörspiele „Resonanz Rosa. Eine Frau hört mehr“ (WDR 1999, Hörspielpreis der Berliner Akademie der Künste) und „Pitcher“ (WDR 2000, Hörspielpreis der Kriegsblinden) sowie die Hörspiele „Spekulation Sommer“ (SWR/NDR 2005) und „Pieta Piëch“ (SWR 2013), die von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste jeweils zum „Hörspiel des Monats“ gewählt wurden. Er ist Leiter der Abteilung Radiokunst (Hörspiel und Feature) beim Südwestrundfunk. 2021 wurde er mit dem Axel-Eggebrecht-Preis für sein Gesamtwerk im Bereich Radiofeature ausgezeichnet.
Ausgewählte Stücke:
„Zur Ästhetisierung des Katzenfutters im ausgehenden 20. Jahrhundert“, WDR 1990
„Central Park oder die leere Mitte“, DLR Berlin/WDR 1995
„Master’s Voice – Stimmen aus dem Off“, DLR Berlin 1999
„Resonanz Rosa – Eine Frau hört mehr“, WDR 1999
„Pitcher“, WDR 2000
„Red kein Blech! Oder: die Stimme der Androiden – Eine Roboter-Sprechstunde zwischen Science-Fiction und Wirklichkeit“, DLF 2005
„Pieta Piëch – Dokumentarpassionsspiel“, SWR 2013
Themen:
Prozedur 7.7.0
„Prozedur 7.7.0“ kommt daher im Gewand einer Dokumentation. Es besteht zu 100% aus schnörkellos nebeneinander gesetzten Interview-Ausschnitten. Man hört Atmos von der Straße, aus dem Treppenhaus und außerdem reichlich Ähs und Pausen. Alles klingt wie echter O-Ton, aber jede Sekunde ist ein Artefakt.
Hermann Bohlen verweist gerne auf das Hörspiel „March Movie“ aus dem Jahr 1983 von Michael Köhlmeyer und Peter Klein, eine fiktive Dokumentation über eine verschwundene Blaskapelle, in der es keinen geschriebenen Text gab, sondern alle Szenen improvisiert wurden. Er sagt in „Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln“, einem direkt nach „Prozedur 7.7.0“ entstandenen Stück: „Da hab ich gedacht: So machst du das auch, du denkst dir deine Geschichte trocken aus, ohne Papier, und erzählst sie den Mitspielern so lange, bis die sie selber glauben, und dann stellst du auf Aufnahme, machst Interviews, und die montierst du dann zum Hörspiel.“
Der Autor denkt sich also eine Geschichte aus: Plötzlich tauchen Menschen auf, deren einziges gemeinsames Merkmal ist, dass sie NICHTS sagen. Sie stehen überall herum, keiner kennt sie, sie haben keinen Ausweis bei sich und niemand weiß, was sie wollen. Der Autor erzählt diese Geschichte seinen Interviewpartnern, die alle keine Schauspieler sind. Er bittet sie, sich die Geschichte zu eigen zu machen, sich hineinzudenken und darauf zu reagieren wie in einer Versuchsanordnung. Dann startet er die Befragung. Männer, Frauen und Kinder schildern, was sie (vor ihrem inneren Auge) sehen, sie schildern ihr Unbehagen, dann ihre Vermutungen, dann ihre Vorschläge, was man „mit denen“ machen sollte. Experten äußern sich: Ein (echter) Polizist erläutert die polizeilichen Druckmittel der Befragung anonymer Personen. Ein (echter) Soziologe und ein (echter) Psychologe geben eine vorläufige Einschätzung. Sachlich und ohne Ironie montiert der Autor den verbalen Zugriff seiner Protagonisten auf das beunruhigende Phänomen. Es entsteht eine labyrinthische Suchbewegung rund um ein stummes Zentrum. Das Unbekannte wird sprachlich eingehegt, das Fremde der Kontrolle unterworfen: Am Ende wird den „Nichtsortierbaren“ ein Chip unter die Haut gepflanzt, der sie sortierbar macht und die Systemstörung beendet.
Wir schwankten, welches Stück von Hermann Bohlen wir in unsere Reihe aufnehmen sollten. Dieser Autor, der zwar immer für Hörspielredaktionen gearbeitet hat, würde – so dachten wir – gut in unsere Feature-Reihe passen, weil er so dicht und immer wieder anders an den formalen Grenzen der Dokumentation herumexperimentiert hat. Er hantierte oft mit großen Materialmengen – ähnlich wie Feature-Autoren. Für sein Stück „Sag doch auch mal was!“ zum Beispiel verwendete er auf Flohmärkten und über Anzeigen gefundene Tonbänder und collagierte sie zu einem ziemlich schrägen Blick auf ein Familienritual.
Am Ende haben wir „Prozedur 7.7.0“ gewählt. Es ist das nackte Konstrukt eines Original-Ton-Features: Stimme Kind, Stimme Mann, Stimme Frau, Stimme Experte; kein Erzähler, keine Schauspieler, nichts aus dem Studio, keine gefühlslenkende Musik. Eben die klassische Form wie sie sich in den 1970er 80er Jahren entwickelte, als der banale und schmutzige Alltag in die Institution Rundfunk gelangte. Seitdem hörte man im Radio nicht mehr nur Stimmen mit der Lizenz zur öffentlichen Rede, sondern auch Fischhändler, Psychiatriepatienten, Bananenverkäufer und streitende Ehepaare. Im Jahr 1996 war diese Sorte Feature eine etablierte Form. Das Publikum wusste Bescheid, kannte die akustische Signatur, die ihm signalisierte: Das hier ist echt, kein Hörspiel, keine Fiktion.
Auf diese Erfahrung konnte der Autor bauen. Er kaperte das Vertrauen des Publikums, imitierte die Form, funktionierte sie um und schlug einen Salto ins Phantastische: artifizielle Authentizität. Eine irre Geschichte mit einem harten politischen Kern. So hat das vor ihm keiner getan. So kann das heute keiner mehr tun, denn das Spiel mit der Echtheit gehört inzwischen zum Repertoire. Und der politische Aspekt von fake und fiction ist heute ein dramatisch anderer.
Marianne Weil
Gespräch mit Hermann Bohlen am 13. April 2022:
Alle Stimmen in „Prozedur 7.7.0“ bleiben anonym. Es sprechen Experten oder befreundete Laien. Warum hast du nicht mit Schauspielern im Studio gearbeitet?
Ich hab in der Zeit viel Hörspiel gehört, und beim Hören ist mir am meisten auf den Zeiger gegangen die Form des Sprechens. Von heute aus betrachtet würde ich das mal gestaltetes Sprechen nennen, geformtes Sprechen. Du brauchst nur eine Silbe davon zu hören und du kannst mit Sicherheit sagen, ob du im Hörspiel gelandet bist oder im Feature oder im sonstigen Programm. Und dieses gestaltete Sprechen, das nahm sehr viel von der Spannung in allen Stücken weg, weil man sofort wusste, es handelte sich um eine erfundene Geschichte und es konnte nicht wahr sein. Und das, was man in der Dramaturgie die „Wahrscheinlichkeit“ einer Geschichte nennt, das wurde so sträflich vernachlässigt mit dieser Art und Weise wie Sachen gestaltet wurden. Ich hatte damals ne richtige Abneigung gegen gestaltetes Sprechen. Vielleicht war das auch so ne Art Gegenbewegung gegen die 80er Jahre – und in den 80er Jahren war gestaltetes Sprechen sozusagen der status quo. Also ich erinnere mich an eine Sendung, die ich mit Freunden gemacht habe, wo wir uns erst interviewt haben über die Fernsehserien unserer Kindheit, und dann haben wir diese Gespräche abgetippt, und das Abgetippte haben wir zergliedert und wieder neu eingesprochen mit allen Ähs und Ohs. Also du kannst dir keine künstlichere Darbietung vor stellen als was daraus entstanden ist. Das war der Höhepunkt des gestalteten Sprechens.
Du sagst immer, das Hörspiel „March Movie“ von Michael Köhlmeier und Peter Klein aus dem Jahr 1983 sei die Inspiration für „Prozedur 7.7.0“ gewesen.
Jaa, da hatte ich ein Stipendium für Hörspiel vom Literarischen Colloquium Berlin, ein halbes Jahr lang, und zu diesem Stipendium gehörte auch, dass einmal im Monat sich alle Stipendiaten trafen, ich glaube wir waren zehn Leute, im LCB, und dort wurden wir unterrichtet im Hörspiel machen –schreiben –ausdenken, hauptsächlich im Hörspiel schreiben. Und der größte und der beste Effekt von dieser Art von Unterricht mit verschiedenen Referenten aus dem Radiogeschäft, aus dem Hörspielgeschäft, der größte Effekt wurde dadurch erzielt, dass wir einfach mit vielen Hörspielen bekannt gemacht wurden. Und unter diesen Stücken war „March Movie“. Manfred Mixner hat das vorgestellt, der hatte ja nen Draht zu den Österreichern.
„Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln“ ist direkt nach „Prozedur 7.7.0“ entstanden und bezieht sich auf den Entstehungsprozess von Prozedur. Dort beschreibst du deine Methode: dass du dir eine Geschichte ausdenken wolltest und sie dann deinen Mitspielern so lange erzählen wolltest, bis die sie selbst glauben. Aber unterschlägst du da nicht etwas? Die Polizisten sind Experten. Sie erzählen nicht einfach deine Geschichte, sie liefern dir mehr als du ihnen mit deiner Geschichte anbietest.
Genau, das sind Leute, die liefern mir ein Idiom oder idiomatische Wendungen, auf die ich nicht auf Anhieb komme als Nicht-Polizist oder als Nicht-Soziologe.
Ist das ein Punkt, der für dich interessant ist, wessen Geschichte du erzählst?
Wie weit ist deine Geschichte in der Hand von andern?
Also ich mach mir weniger Gedanken darüber, wessen Geschichte es ist als darüber, wie gut ist die Geschichte und ist es nicht ein bisschen verlogen draufzuschreiben: eine Geschichte von Hermann Bohlen. Jedenfalls in dem Moment, wo ich die Leute so einbinde und zu Mitautoren mache, und das mach ich sie mit dieser Methode, in dem Moment könnte man auch sagen, dann müssten die Leute mit in die Autorenzeile hinein.
Das machst du nicht so, weil das unpraktisch wäre?
Das wären dann zu viele. Aber weißt du, auch bei dem letzten Stück „Quitzow“, da gibt es einen vollkommen ausgeschriebenen Dialog, vollkommen ausgeschriebene Szenen, aber meine Haus- und Hofregisseurin – Judith Lorentz – die macht ja zum Schluss immer noch eine Version frei, da nimmt sie den Leuten das Papier weg und da kommt immer noch etwas dazu, was fast in allen Szenen Verwendung findet, nämlich der Fabuliergeist aller einzelnen Schauspieler, die Fabulierlust und die Formulierkunst. Was hat das Stück dadurch gewonnen, dass zum Beispiel der Johannes Benecke, die Hauptfigur, so viel da noch reinbringt, Dinge reinbringt, auf die ich selbst nicht gekommen wäre.
Das heißt, du nimmst, was du kriegst?
Ich nehme, was ich kriege. Wenns besser ist als das, was ich mir aus meinen Fingern sauge …
Aber weißt du, ich hab das da so geschrieben wie es in den „Kartoffeln“ heißt – das ist natürlich immer so ne totale Vereinfachung. In Wirklichkeit ist es ein bisschen differenzierter. Diese Geschichte, die ich da in Prozedur erzähle, ist für mich ne extrem wichtige Geschichte gewesen, nämlich die Geschichte der Kraftlosigkeit vieler sozialer Bewegungen. Das steht im Hintergrund, das steht hinter der ganzen Erfindung. Dass ich mich verzweifelt fragte, warum sind wir, warum kommen wir immer so schwach rüber, wenn wir auf die Straße gehen, und diesen Gedanken oder diese Verzweiflung hab ich immer weiter gedacht, und dann kam ich darauf, ich möchte mal ne soziale Bewegung kreieren – zumindest in einem Hörspiel, in einer Geschichte – die mir wirklich bedrohlich und unheimlich vorkommt, so dass ich anfange zu zittern.
Kapierst du?
Ja. Bin ich nie drauf gekommen. Ich dachte immer, es geht dir darum die Gegegenkräfte zu zeigen, die auf die Verweigerung mit Gewalt oder Zwang – H.B.: Repression – reagieren. Dass dieses politische Ungenügen am Anfang stand, ist interessant.
Brief von 1995 an den „Fahnder“ Zeiseweis in Vorbereitung des Interviews:
„Mich interessiert seit Jahren das Thema Widerstand. Wie kann man Widerstand leisten, fragte ich mich, wie kann man rebellieren, und wer rebelliert heute in welcher Form und mit welchem Erfolg. Ich beobachtete Punks. Autonome Bürgerbewegungen. Bürgerinitiativen etc. Ich beobachtete, wie die Gesellschaft mit ihnen umgeht: Sie gibt ihnen einen Namen – wenn sie sich selbst noch keinen gegeben haben. Wenn plötzlich Menschen dieses Land, ihre Arbeit, ihren Kreis verlassen und in die Pampa gehen, dann kriegen sie einen Namen verpaßt: „Das sind Aussteiger“, sagt man, und damit ist für Ruhe wieder gesorgt. Den Rest erledigen Jugend- und andere Experten, die allen erklären, was passiert. (…) Alle sozialen Phänomene, die vielleicht eine Zeit lang für Unruhe sorgen, alle Formen der Verweigerung, alles Rebellische, alles Abweichende und dadurch Beunruhigende wird früher oder später integriert, entschärft (…) „repressive Toleranz“.
Du hast für das Stipendium ein Exposé geschrieben – danke, dass ich daraus zitieren darf! In diesem Exposé entwickelst du noch die Vorstellung, dass die Unsortierbaren eine eigene Sprache haben, dass sie nicht stumm auf den Straßen und Plätzen stehen. Was ist daraus geworden?
„Gegenstand ihrer Rede sind zum einen Floskeln, Redewendungen und dumme Fragen, zum anderen Erlebnisse des Tages, Fetzen erinnerter Vortage … Der Grammatik dieser Sätze wurde gelegentlich ins Kreuz getreten … Wenn alles richtig gemacht wird, entfaltet das Polizei- und Soziologen-Deutsch im Kontrast dazu eine leicht brutale Note.“ (Exposé)
Ich hab mir anfangs, als ich anfing an dem Stück zu arbeiten, hab ich mir diejenigen, die in dieser sozialen Bewegung sind, so vorgestellt, dass sie eine eigene Sprache haben, aber dass es eben eine poetische Sprache eher ist oder aus der Sicht von Psychologen vielleicht eine Sprache der Verzweiflung oder der inneren Zerrissenheit – aus meiner Perspektive eben eine poetische Sprache, eine zerstörte Sprache, mit zerstörter Grammatik und mit einer Syntax, die nicht dem Deutschunterricht entspricht. Ich hab anfangs Sätze geschrieben, oder ich hab über Jahre so eine Sammlung von Sätzen, wo ich dachte, diese Sätze sprechen meine Leute. Und meine Leute, das sind: der Entflohene, die Gesuchte, der Bankräuber, der Vermisste, der Tote, die Tote. Ich hab auch Bildchen dazu. Die Bildchen kriegte ich meistens aus dem Tagesspiegel, aus der Spalte Polizeinachrichten, wo Leute halt keinen Namen hatten, aber ne Kategorie, aus der sie kamen, also aus der Kategorie „die Toten“ oder „die Gesuchten“, und für die hab ich mir eine Sprache ausgedacht, oder der Anblick dieser Gesichter brachte mich dazu ihnen bestimmte Sätze zuzuschreiben. Diesen Gedanken hab ich aufgegeben, aus verschiedenen Gründen. Ich habs aufgegeben, zum einen weil ich damit wieder in so eine 80er Jahre Ästhetik gerutscht wäre, was ich nicht wollte. Und dann wäre mir irgendwann aufgegangen, glaube ich, dass das ne ne Anmaßung ist, diesen Gesuchten und Toten und Bankräubern diese Sätze anzudichten.
Was ich wirklich genial finde an diesem Stück ist die leere Mitte, dass die nicht gefüllt ist, weder durch improvisierte noch durch geschriebene Sprache, sondern umrahmt von den Vermutungen und Erklärungen und Befürchtungen der andern. Mir war gar nicht klar, wie wenig du das geplant hattest, wie knapp das war.
Du, das wäre nicht das erste Mal, dass ein Stück schlauer ist als der Autor. Die Tatsache, dass ich diese Leute nicht zu Wort kommen gelassen habe, die machen das ganz Gerede drumherum über sie natürlich viel viel interessanter, und überhöhen es, und dieses Nichts, was da auf der einen Seite ist und das Geschwätz auf der anderen Seite, das hat ja ne dramaturgisch viel größere Kraft als ich selber geplant habe
aber das war dir damals vielleicht nicht klar?
nee, das war mir nicht klar, das war Glück – oder Instinkt.
Weißt du, was ganz fatal geworden wäre, was das Stück total gekillt hätte, wäre diese Gegenüberstellung von einmal gestaltetem Sprechen – nach Noten, nach Text – und einmal ungestaltetem Sprechen, nach Laune und nach augenblicklichem Einfall. Freie Rede versus gebundene, verschriftlichte Rede, da überwiegt immer die Attraktivität der gebundenen, der schriftlichen Rede.
Weißt du, was noch reinspielt in diese ganzen Entscheidungen? Das ist die Tatsache, dass ich nicht so der geeignete Typ bin fürn Hörspielstudio der ARD. Für den Zeitdruck, der da herrscht, für die ökonomische Verwendung von Zeit. Ich brauch halt Zeit mit meinem Material, ohne dass mir jemand sagt, so jetzt isSchluss. Da musste ich unweigerlich auf Improvisation und fingierten O-Ton kommen.
Ich hatte auch gerade mit Frieder Butzmann zusammen ein Stück gemacht „Die Wauwautheorie“, und da hatte Frieder die ganze Produktion in der Hand, weil er das Protoolsgerät hatte, einer der ersten, der mit Protools ausgestattet war und ich hab dann beobachtet, wie er das am Bildschirm macht, also sone Art arbeiten, wie ich es von den Schreibprogrammen her kannte, man hat ein Wort markiert und ausgeschnitten und woanders hingesetzt und genau so im Akustischen. Und diese Arbeitsweise, die schwebte mir dann auch für dieses Stück vor.
Ohne Schauspieler und ohne Studio
Ich nehme, was ich kriege
Prozedur ist eine politische Geschichte
Im Exposé haben die Unsortierbaren noch gesprochen
Das Stück ist schlauer als der Autor
Biografie
Hermann Bohlen, geboren 1963 in Celle, studierte Sinologie in Berlin, Hamburg und Shanghai. Lebt als Autor und Produzent von Hörspielen in Berlin. 1995 war er Stipendiat der Hörspielautoren-Werkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin, aus der „Prozedur 7.7.0“ hervorging. Die Produktion wurde ausgezeichnet mit dem Publikumspreis „Lautsprecher“ der Akademie der Künste Berlin 1997. Im Jahr 2000 konzipierte er den PLOPP-Wettbewerb für unabhängige Hörspielmacher im Rahmen der Woche des Hörspiels an der Akademie der Künste. Für „Alfred C. – Aus dem Leben eines Getreidehändlers“ (DKultur/HR 2012) erhielt er 2012 den Deutschen Hörspielpreis der ARD.
Ausgewählte Radiostücke
„Die Wauwautheorie“ (mit Frieder Butzmann), DLR Berlin 1995
„Prozedur 7.7.0“, SFB 1996
„Sag doch auch mal was! Oder Das Luxurieren der Bastarde“, DLR Berlin 1998
„Gräser fliegen nur noch selten“, SWR 2005
„Alfred C. Aus dem Leben eines Getreidehändlers“, DKultur/HR 2012
„Lebensabend in Übersee“, WDR 2014
„Die Sprache der Wildschweine: Schweine-Heinz“, Dlf Kultur 2017
„Hahnenkampf in Quitzow“, RBB 2021
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