Jetzt
„Um eins“ sagt der Fotograf, „wimmelt der Broadway nur so von Ganoven und jungen Kerlen, die in weißen Dinnerjackets aus dem Astor Hotel kommen – Jungs, die in Papas Wagen zu irgendwelchen Bällen fahren. Und dann sind da noch die Putzfrauen, die nach hause gehen, die erkennt man ihren Kopftüchern. “
„New York: Stadt im Verborgenen“ heißt eine 24 Buchseiten lange Reportage von Gay Talese, die 1961 erstmalig im Esquire erschien, einem ebenso beliebten wie schillernden Männer- und Lifestylemagazin aus New York. Das Blatt war seinerzeit die Wundertüte unter den amerikanischen Printmedien. Zum Beispiel fand der Leser zehn Jahre vor Taleses NY-Reportage das in der Heftmitte eingeklappte Pinup einer gewissen Marilyn Monroe. Und wenige Jahre später dann die ersten, stilbildenden und bis heute legendären Reportagen von glamourösen Autoren wie Tom Wolfe, Norman Mailer und Truman Capote. Mit ihrem literarischen Zugriff auf die Welt haben sie ein neues journalistisches Format auf das Print-tableau gehoben. Ein Sub-Genre der journalistischen Reportage entstand, das mit vielen Namen zu fassen versucht wurde: New Journalism, Art Journalism, Essay Fiction, Factual Fiction bis hin zu „Nonfiction Novel’, einem Begriff, den Capote 1965 für seinen gefeierten Recherche-Roman „In Cold Blood“ geprägt hatte.
„Zeitschriften konnten plötzlich, wenn sie mutig und geneigt waren, tun, worauf sie verdammt noch mal Lust hatten, solange die Leute sie kauften und die Anzeigenkunden das wussten“, fasst der Journalismus-Dozent Michael Shapiro den „heißesten Scheiß“ der Stunde zusammen.
„Um zwei wird der eine oder andere Säufer unleidig, da gehen dann in den Bars schon mal ein paar Schlägereien los.“
Sexy waren die oftmals von einer anspruchsvollen Foto-Strecke flankierten Reportagen aber nicht allein wegen der Glamour verheißenden Autoren-Namen. Der Schreibstil selbst war neu: griffig und unterhaltsam, reich an Witz und durchlässig für alle Neologismen der aufkommenden, kreativen Pop- und Subkulturen im Amerika der 60er Jahre. Und dort fand dieser Reportagestil auch oft seinen Erzählstoff und seine Protagonisten: Talese etwa schrieb mit Vorliebe groß angelegte Portraits über die kleinen Gewinner und großen Verlierer des Showbiz: Boxer und Baseball-Stars und spannende, weil teilweise zwielichtige Showfiguren wie Dean Martin oder Frank Sinatra. Oder er ernennt seine Heimatstadt kurzerhand zur Hauptfigur und versucht sich an einem Nachtbild:
„Um drei sind die Shows in den Nachtclubs zu Ende und die meisten Touristen und Spesenritter wieder in ihren Hotels, die Fifth Avenue wie leer gefegt. Bis auf ein paar Menschen, die unter Schlaflosigkeit leiden und einigen eleganten Frauen, die Tag und Nacht in den Schaufenstern stehen, ein kaltes, makelloses Lächeln auf den Lippen – mit Mündern aus Plastik und Augen aus Glas.“
Ob er diese Reportage gelesen hatte, ist nicht überliefert, aber fast 40 Jahre später und ganz woanders, nämlich in Berlin, steht Robert Matejka, der damalige Feature-Redakteur des Deutschlandradio Berlin, vor den Studenten des Theaterwissenschaftlichen Seminars der Humboldt-Universität Berlin. Dort leitet er im Jahre 1998 ein Proseminar: „Einführung in Theorie und Praxis von Hörspiel und Feature“.
Über den theoretischen Teil sind keine Notizen vorhanden, der praktische Teil allerdings liegt gut konserviert im Schallarchiv und klingt heute noch so fresh, dass er keinen Vergleich mit Taleses üppigem Nacht-tableau zu scheuen braucht.
Das erklärte Ziel des praktischen Teils war „die Simulation einer Live-Sendung: Was machen die anderen, während ich Radio höre? Was passiert da draußen? Jetzt, in diesem Moment?“ Und dieser Moment startet zur Sendezeit, um 0.05 Uhr in der Nacht.
Sechs kleine Aufnahmeteams, mit gutem Tonequipment ausgestattet, brechen dafür spät abends auf und halten ihr Mikrofon – mehr oder weniger gleichzeitig – in die Berliner Nacht: sie sammeln das Grundmaterial für ein Experiment: ein „Schwarm-Feature“, wie es der Autor und Kurator Tido von Oppeln heute rückblickend nennt. Er gehörte damals wie auch Stella Luncke zu den Studenten, die diese erste praktische Feature-Etude unter der Leitung von Robert Matejka durchliefen.
Erhellend ist die Gegenüberstellung dieser beiden Arbeiten sicher, weil sie ein ähnliches Projekt betreiben: die Beschreibung der Stadt bei Nacht. Aber noch interessanter vielleicht ist die Stil-Verwandtschaft dieser beiden dokumentarischen Langformen, grade weil sie so unterschiedliche Erzählmittel benutzen.
Kein Printformat ist dem Radiofeature in der Grundhaltung zu seinem Sujet, in Stilmerkmalen so herzensverwandt wie die originären Blüten des new journalism der amerikanischen 60er Jahre. Was auch daran liegen mag, dass beide Genres ungefähr zur gleichen Zeit, das eine in den USA, das andere in Europa entwickelt wurden.
Versucht man den Schreibstil dieser neuen Reportagen zu beschreiben, dann landet man – interessanterweise – schnell bei den bekannten Begrifflichkeiten, die seit Jahrzehnten auch in jedem Radio-Feature-Seminar oder Workshop irgendwann fallen.
Bevor Peter Leonhard Braun das stereophone Feature als neue genuine Radioform etablierte, schrieb er zahlreiche literarische Radio-Feature, die stilistisch durchaus Verwandtschaften zu den amerikanischen Reportagen der Zeit aufweisen. Aber auch Brauns berühmtes Boxer/Catcher-Feature „Catch as catch can“ von 1968: Blendet man – was schwer fällt – die einehmende akustische Präsenz, die grandiosen Atmos, die den Hörer mitten in die entfesselte Zuschauermenge setzen, aus, bleibt einzig eine Erzählerstimme, die uns durch die Nacht am Ring begleitet. Ein Erzählstil also, den wir in unseren Hörprotokollen als „Feuilleton in mono“ beschrieben haben und sich stilistisch mit Gay Taleses Sport-Reportagen gut vergleichen lässt – und im übrigen nach dem fulminanten Sound-Anfang den größten Teil dieses Features alleine bestreitet.
Die literarische Reportage des new journalism wie auch das Feature:
-umkreisen ein gründlich recherchiertes und eingehend beobachtetes Sujet, die „Erzählung“ davon ist oftmals von einer höchst subjektiven Autorenstimme geprägt;
– sind den dokumentierten Fakten verpflichtet, verarbeiten sie aber mit literarischen Stilmitteln;
– bevorzugen eine eher szenische, als berichtende Erzählform;
– zeigen ein Gespür für Typen und deren Sprechweise;
– pflegen einen atmosphärischen Detailreichtum;
– haben den Mut zum abrupten Perspektivwechsel, der einhergehen kann mit Tempo- und Sprachstil-Variationen: subtile Beobachtungen und sachliche Analyse kontrastieren kurze, fraktale Eindrücke;
– hängen weniger der linearen Erzählweise an als einer parataktischen, assoziativen, im Feature vielleicht collagierenden Bauweise.
Das „Jetzt“-Feature der Theater-Studenten führt den Hörer streifzugartig durch die Berliner Nacht der späten 90er Jahre: Wir springen vom Bahnhof Zoo in ein Schlaflabor, hören uns kurz in einen Tanzclub, in eine Polizeiwache und in eine Druckerei ein, stehen beim Fastfood mit an und hören alle fünf Minuten die heute schon prähistorisch anmutende Stimme der telefonischen Zeitansage der Telekom: „Beim nächsten Ton ist es…“ mit dem lustigen und sehr einfach zu erzielenden Effekt, dass der Radio-Hörer dabei gleichzeitig auf die Armbanduhr schaut und sagen kann: „Stimmt!“ – fertig ist die Live-Simulation! Denn das Feature lief 1998 bei Deutschlandradio Berlin um 0.05h auf dem Feature-Sendeplatz.
Sein Alter zeigt das Stück nicht in der Machart, die klingt auch heute noch originell und akustisch interessant. Es arbeitet mit entschiedenen Schnitten und unvermittelten Szenenwechseln und macht sich um die Orientierung der Hörerschaft keine Sorgen. Darin mutet es sehr „heutig“ an. Aber es bewegt sich in einer noch weitestgehend analogen Welt, in der man zu jeder Tages- und Nachtzeit die Telefonauskunft der Deutschen Bahn anrufen konnte. In einem leicht gereizten Unterton („Ja, Ankommen oder Abfahren, wat woll’nse denn jetzte?“) liest uns die Nachtschicht-Angestellte vor, welche Züge knapp zehn Jahre nach der Wende zwischen Null und Eins in Berlin ein- oder ausfahren: es sind nur wenige – und auch hier zeigt das Stück seine Entstehungszeit. Berlin ist noch keine brodelnde Metropole wie Taleses New York der 60er Jahre, noch merkt man ihr das jahrzehntelange Inseldasein an. Es ist noch die Stadt weit im Osten, die erst langsam ihren (Schienen)-Anschluss an den Rest der Welt findet. Mitunter seltsam leer wirkt die Stadt in diesen Aufnahmen, was die zufälligen Protagonisten dieses Stückes umso greller in den Vordergrund rückt. Der Bahnhof klingt wie eine leere Bühne, wir hören die Gleisdurchsagen der Deutschen Bahn verhallen und nähern uns „Enten-Mike“, einem heillos verschnupften Irokesen-Punk, der mit niederrheinischem Singsang aus seinem unbehausten Leben und von seinem Zwillingsbruder erzählt, der drei Stationen weiter am Zoo schnorrt. Enten-Mike hat seinen Trick raus, wie er die Passanten auf sich aufmerksam macht und ihnen, wenn er Glück hat, etwas Kleingeld oder eine Zigarette entlockt: denn wenn er will, klingt „Enten Mike“ aus dem Stand wie Donald Duck, „dat macht mir keiner nach“. Mit solchen kurzen Nacht-Begegnungen, mit sich scheinbar von selbst entfaltenden Schicksals-Miniaturen arbeitet das Stück. Nichts wirkt hier ans Licht gezerrt oder mühevoll präsentiert. Das Mikrofon wirkt hier eher wie ein geduldiges Spinnennetz, es fängt ein, was der Nachtwind ihm vor die Membran weht. Scheinbar.
Gay Talese hingegen hat über Jahre eine chinesische Fußballerin verfolgt, die Geschichte schrieb, als sie den entscheidenden Final-Elfmeter gegen die USA verschoss. Für Talese wurde diese Frau zu einer Obsession: ganze Kartons an Recherchematerial hatte er gesammelt und Exposés geschrieben und Monate in China verbracht. Je mehr er drängte, umso unwahrscheinlicher wurde ein genehmigtes Interview. Das Treffen mit ihr kam nie zustande, die Reportage wurde nie zu Ende geschrieben und keine Zeile davon veröffentlicht.
It’s all about time, schreibt und resumiert Gay Talese in seinen Arbeits-Memoiren. Aber wie lange muss der Radiomacher nachts durch die Straßen ziehen und im U-Bahnhof herumlungern, bis seinem Mikro zwei so ausdrucksstarke Typen ins Netz gehen, wie wir sie bei Minute 25 zu hören bekommen:
Zwei Bodenreiniger beginnen ihren Nachtdienst im U-Bahnhof, man hört die kreisenden Bürsten ihrer Maschinen im gekachelten Gewölbe. Wer meint, hier beispielhaft eine „niedere Tätigkeit“ vorgeführt zu bekommen, der wird von den selbstbewussten Nacht-Arbeitern eines Besseren belehrt. Dass ihnen diese Maschinenarbeit „ein bißchen als Privileg verkauft“ wurde, erzählen sie freimütig und auch dass sie sich in ihrer Montur inmitten der streunenden Nachtgestalten durchaus wohl fühlen, bringen sie auf den Punkt: „Die wundern sich über uns, wir über sie!“ Parallelwelten um 0.25h.
Auch Gay Talese setzt in seinem Text auf Quellen-Diversität, durchbricht seine detaillierten Nacht-Beobachtungen mit Originalton-Aussagen von Nachtschwärmern und Türstehern. Und gut verstreut über den gesamten Text, wie kleine knallige Bonbons wartet Talese mit ungewöhnlichen Statistiken auf. Diese sorgen immer wieder für einen Perspektivwechsel und schauen auf NYC wie von weit oben herab, eine aus Zahlen gemalte veduta: die New Yorker ziehen sich täglich 40 Km Zahnseide durch die Zähne, täglich sterben 250 Menschen und 460 werden geboren…. 150 000 Brillenträger schauen auf diese Stadt und 200 Maronenverkäufer warten auf Kundschaft. Auch die 300 000 Tauben und 600 Statuen und Denkmäler nennt er sinnigerweise in einem Atemzug. – Er malt ein opulentes Panoptikum, scheinbar einzig begrenzt durch die Vorstellungskraft des Lesers. Dem sich eine von unüberschaubaren Gleichzeitigkeiten durchzogene „Symphonie der Großstadt“, der Weltstadt schlechthin, auftut.
Ein Stückweit inszeniert auch das „Jetzt!“-Feature eine gewisse Draufsicht, setzt den Hörer in eine Beobachter- – und weil die Aufnahmen fast ausschließlich im öffentlichen Raum geschehen – auch in eine Art Überwachungs-Position: das Feature als Zentrale, in der alle Kanäle zusammenlaufen, mühelos und unbeteiligt schwenkt der Hörer alle drei Minuten von einer Szenerie zur nächsten und wieder zurück. Streifzüge. Zufällige Fundstücke. Gleichbleibende Distanzen.
0.11 Uhr an eine Tankstelle: Jugendliche protzen vor dem Mikrofon mit ihrem Drogenkonsum, wildes Gegockel bis hin zu Androhung von Gewalt, „Ich hab hier kein Problem, dir eins aufs Maul zu hauen“. – It’s all about time – Wie lange also bleibt man als Feature-Macher dort stehen? Wie lange tut man sich das verspulte Gebaren an? Kommt die Begegnung vielleicht nochmal in ein anderes, vielleicht sogar völlig überraschendes Fahrwasser, wenn man hartnäckig und gelassen bleibt? Ja, in dieser Szene deutet es sich an, der eine oder andere aus dem Rudel lenkt ein und ist scheinbar zum Gespräch bereit, wird dann aber doch überschrieen… Schön zu vergleichen ist diese alkoholisierte Gruppendynamik mit jener einer Gruppe feiernder Frauen. Sie klingen so ausgelassen, als seien sie grade erst aus der Kneipe auf die Straße gestolpert, und ab Min 16 dann schwanken sie kichernd und schlüpfrige Zoten reißend durch das Stück..
„Um vier, wenn die Bars dichtmachen, kann man die harten Trinker sehen – und die Zuhäter und Prostituierten, die den Besoffenen das Geld aus der Tasche zu ziehen versuchen.“
And it’s all about Zufall. Denn in jeder anderen Nacht, an jedem anderswo in Berlin gelegenen Aufnahme-Spot wäre anderes, vielleicht in seinem Grundton sogar gänzlich anderes Material und demzufolge eine gänzlich andere Sendung entstanden. Das Feature – und das gilt vielleicht auch für die literarische Reportage, muss sich von diesem Umstand den Spaß nicht verderben lassen. Zufall ist hier Prinzip. Und – paradox oder nicht – je dezidierter und genauer das dokumentarische Genre einzelne Typen beschreibt, um so mehr prototypische Merkmale kommen zum Vorschein. Die Frage nach der Objektivität, nach Repräsentanz stellt weder das Feature noch ihre Artverwandte aus dem Blätterwald.
Beide dürfen auf den Zufall vertrauen und wenn das Mikro zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ist, dann beschenkt er den Macher und den späteren Hörer mit solchen Sternstunden- oder Minuten wie in „Jetzt!“ bei Sendeminute 35: eine echte Prototypen-Show:
„Der Ausländer“ und „der Skinhead“ verfangen sich, betrunken sind sie beide, in eine absurd komische Diskussion über die vergangenen Bundeskanzler der BRD. Nach zwei Minuten zeigt sich, dass der radebrechende Migrant weit besser Bescheid weiß und – legendärer Moment in der Geschichte des szenischen Features – dem bedröppelten Glatzen-Typ, sein Bier in die Hand drückt und ihn mit den Worten stehen lässt: „Kannste mal halten, ich muss mal pinkeln? “ Wieviele Tage müsste man Radio hören, um einmal Tränen zu lachen..? Hier also genügen 38 Minuten.
„The fine art of hanging around“ nannte Talese seinen beobachtenden Recherchestil. Hier haben die Studenten ihn kongenial kopiert: beim Späti abhängen, ohne Eile und mit offenem Mikrofon, offen für den Moment, den Zufall, der Konstellationen schafft..
„Aber um fünf ist es dann ziemlich ruhig. Da ist New York nicht wiederzuerkennen.“
Oder eben keine Konstellationen schafft: An Frank Sinatra hat sich Talese die Zähne ausgebissen, ihn über Jahre verfolgt und obwohl dutzendfach angebahnt, kam es letztlich nie zu einem realen Treffen: Talese wurde ein ums andere Mal mit wechselnden Vertrauensmännern, Sprechern und Stellvertretern vertröstet. Dieses Katz- und Mausspiel macht der Schreiber ohne Mikrofon zum Motor seiner Reportage: er beschreibt das Showbusiness, indem er einen Entertainer als unnahbaren Superstar portraitiert. Sinatra ist Alles und Niemand, eine leere Mitte, umgeben von einer halbseidenen Entourage aus Familie und Mafia. Aus diesem Verwirrspiel schrieb Talese „Frank Sinatra ist erkältet“, 1966, ebenfalls im Esquire erschienen. Zum 70-jährigen Bestehen der Monatszeitschrift 2003 wurde sie als „die beste Esquire-Geschichte aller Zeiten“ ausgezeichnet. –
it’s all about timelessness.
Historisch und zeitlos zugleich ist auch die über 20 Jahre alte Momentaufnahme im „Jetzt!“-Feature. – Das Uni-Experiment „Gleichzeitigkeit“ bzw „Live-Simulation“ hat seine ganz eigenen akustischen Mittel gefunden, die dem schreibenden Journalisten gar nicht erst zur Verfügung stehen. Erst durch den kollektiven Ansatz in der Arbeit der Student*innen, die mit mehreren Rekorder-Einheiten ausgeschwärmt sind, konnte eine wirklich multiperspektivische Moment-Aufnahme entstehen, in der jedes Partikel seinen eigenen Sound, seine eigene Geräusch-und Atmowelt mitbringt.
Anders als die literarische Reportage braucht das Feature nicht zwangsläufig einen moderierenden Erzähler, der fortlaufend wechselnde Orte und Konstellationen beschreibt. Die Szenen erzählen sich den Ohren selbst, die bleibende Rest-Unschärfe ist exakt jener Freiraum, der dann der Phantasie des Hörers zugute kommt. Wo der Print-Autor eine ausgeklügelte Grammatik bemühen und sich in seiner Lenkung des Lesers fortlaufend sichtbar halten muss, sofern er die Illusion der Gleichzeitigkeit aufrechterhalten will, hat es der Featuremacher leichter: seine Autorenschaft – in diesem Fall eine kollektive – liegt wirksam aber versteckt in der mutigen, weil offenen Anordnung des Materials. Durch die rhythmisch wiederkehrenden Leitmotive, die sich hier durch das Stück ziehen und es zusammenhalten, konnten die studentischen Monteure – gemeinsam mit ihrem regieerfahrenen Mentor Robert Matejka! – das ausgewählte Material im Studio dann um so freier und assoziativer, eher nach musikalischen, als nach logischen Gesichtspunkten arrangieren. Diese „Freiheit“ tut dem Stück gut, es lässt den Hörer an der langen Leine und füttert ihn doch mit sehr konkreten, weil szenischen Bildern, die über den Tag hinaus nachhallen.
Its all about time… In der Literatur, im Film, im Journalismus, alles „neu“: Nouveau Roman, New Hollywood, Nouvelle Vague, New Journalism. Die 60er Jahre werden zum Aufbruch verheißenden Jahrzehnt schlechthin.
Spätestens in den 80er Jahren geriet das goldene Zeitalter der langen Form erst in wirtschaftliche Erklärungsnot und dann in die Fänge der Promi-Logik: Um die ausufernden Kosten dieser recherche-intensiven Arbeiten einzufangen, wurden mittlerweile fast nur noch etablierte Bestseller-Autoren engagiert, die zugleich schon mit einem Buchvertrag ausgestattet und damit ko-finanziert waren. Über diesen Trend verliert Talese so manche Träne: „Die Texte beschäftigen sich mehr mit ihnen selbst als mit anderen Menschen.“ Eine Kritik, mit der auch schon manches Radio-Stück in die ewige Wüste des Schallarchivs geschickt und nie wieder aufgelegt wurde.
In den 80er und 90er Jahren fand diese Printgattung auch in Westdeutschland ihre Heimat in so schillernden Zeitgeist-Magazinen wie TEMPO und WIENER und allemal in den intelligenten Musik-Zeitschriften wie SPEX und SOUND: unwiederbringliche, Aufbruch verheißende Zeit. Heute leisten sich nur noch ganz wenige Wochen-und überregionale Zeitungen ihre lange, exklusive Edel-Strecke, deren online-Fassung sie inzwischen fast regelmäßig hinter einer paywall verbergen. Womit sie vielleicht nicht die Kosten decken, aber doch dem ursprünglichen Sinn des Wortes „exklusiv“ Rechnung tragen.
Lässt man die big player mal außen vor, ist das Internet trotz des steigenden wirtschaftlichen Drucks natürlich immer noch die Wundertüte unserer Zeit, die Selbstverwirklichungsmaschine, der „Ort“ schlechthin, wo Künstler und Autoren ohne (oder mit ganz neuartigem) Businessplan und in Eigenregie ihre Herzblut-Projekte landen. Dort wird hoffentlich auch die lange dokumentarische Form in vielfältigster Art weiterleben. Genauso wie das Radio-Feature, das sich zunehmend im Internet einrichtet, es nicht nur als Sendeplattform nutzt, sondern auch als Ort des lebendigen Diskurses, als Archiv und Gedächtnis.
Giuseppe Maio
Die Vögel singen noch in Newe Ur
Ein Fall, bei dem sich ausnahmsweise mal die gesamte „Jury“ einig war: Dieses Stück fanden alle interessant. Und weitgehend aus denselben Gründen. Einigkeit gab es allerdings auch bei den Schwächen.
Das Stück erzählt sehr atmosphärisch. Und – für die Zeit eher selten – mit vielen szenischen Aufnahmen, die z.T. auch lange frei stehen. Zwei Grundstimmungen sind vorherrschend: Da ist die unglaubliche Stille, durchbrochen nur von Vogelgezwitscher, die eine weite und von vielen Vögeln besiedelte Landschaft evoziert. Die zweite akustische Spur ist von der kriegerischen Auseinandersetzung geprägt, vom Einschlag der Mörsergranaten, Düsenjägern am Himmel etc. (Die israelische Armeee liefert sich hier täglich Gefechte mit der Fatah, später auch mit irakischen Truppen, die auf der anderen Seite des Jordan, gegenüber vom Kibbuz, ihre Posten errichtet haben. Die Entstehungszeit des Stücks legt nahe, dass die Aufnahmen während des so genannten “Abnutzungskrieges” gemacht wurden – klar belegen ließ es sich für uns nicht.) Beide Stimmungen wechseln sich ab und überlagern sich zum Teil. Hintergründe zum – auch ansonsten nicht herausforderungsarmen – Leben im Kibbuz werden weitgehend im O-Ton von Bewohnern erzählt.
Der Autor tritt als auktorialer Erzähler auf, ist aber eher zurückhaltend und immer auch Beteiligter. Wenn die Sirenen heulen, muss auch er in den Luftschutzkeller. Und je näher die Einschläge kommen, desto mehr rücken sie auch dem Reporter und dem Hörer auf den Leib. Dramatischer Höhepunkt des Geschehens ist ein Gefecht, bei dem der Kuhstall des Kibbuz zerstört wird. Die Flucht in den Luftschutzkeller, die Stimmung dort, die Kindergruppe im separaten „Kinderbunker“. Das teilweise Versagen der Aufnahmetechnik durch die Druckwelle der Explosion, die als ästhetisches Mittel genutzt und in die Erzählung integriert wird. Die Aufnahmen vermitteln ein Gefühl der Unmittelbarkeit. Stilistisch faszinierend ist, wie der Autor mit sehr wenigen visuellen Beschreibungen auskommt und stattdessen fast ausschließlich auf akustische Reize setzt. Wie er damit eine hohe Intensität erzeugt. Und außerdem sehr viel erzählt in der überschaubaren Zeit von 37 Minuten:
Warum lässt sich ein niederländisches Pärchen (nicht-jüdischer Herkunft) mit kleinem Kind an diesem unwirtlichen Ort nieder? Wie locken sie die Kinder täglich in den Luftschutzkeller? Wie fühlt es sich an, unter der Erde auf das Entwarnungssignal zu warten – Eltern für sich und Kinder für sich? Und was macht das tägliche Kriegsspiel mit den halbstarken jugendlichen Helfern? Das Feature bietet keinen ausgewogenen Blick auf die Kriegsparteien und ihren Konflikt. Der Autor lässt sich die Perspektive der Kibbuzim erzählen – mit dem Fokus auf ihr alltägliches Leben. Man erfährt dadurch vieles, was man in der Konfliktberichterstattung aus dem Nahen Osten in der Regel nicht hört. Ohne – und das ist das Wesentliche – dass der Eindruck der Parteinahme entsteht. Denn hier steht nicht das Für und Wider, die Suche nach Schuldigen, Konfliktlinien und Lösungsvorschlägen im Vordergrund. Sondern das Zuhören, das Erfassen eines einzigen ganz kleinen Puzzleteils. Wie gewinnbringend das sein kann, hat Bob Uschi (geboren 1911 als Viktor Silberberg in Rotterdam) hier vorgeführt.
Doch ein großer Wermutstropfen überschattet das Hörabenteuer, und das sind die Overvoices in der deutschen Fassung. In bester Re-Enactment-Tradition wird den Protagonisten ein fiktiver Charakter verpasst, hinter dem die originalen Töne weitgehend verschwinden. Alle Information, die in diesen Tönen steckte: verloren. Die Story bekommt dadurch eine unzeitgemäße Anmutung, die beim ersten Hören durchaus abschrecken kann. Auch beim Erzähler bricht bei aller Zurückhaltung manchmal ein Pathos durch, das das Stück klar in den 70er Jahren verortet. (Man denke beispielweise an die erzählerische Trilogie aus “Wasser, Schweiß” und – Wirkungspause – “Blut”. Gefolgt natürlich von Gefechtslärm.) Doch lassen Sie sich nicht abschrecken und hören Sie weiter. Durch die ersten 10 Minuten onkelhaftes Kammertheater hindurch. Es lohnt sich am Ende doch!
Das Stück wurde im niederländischen Original 1969 mit dem Prix Italia ausgezeichnet.
Tanja Runow
Biografie
Bob Uschi (1911–1995) war ein niederländischer Zeichner und Radiomacher. Er wurde in Rotterdam als Viktor Silberberg in eine liberale jüdische Familie geboren. Mit acht Jahren zog er nach Berlin, studierte dort später Medizin, brach das Studium jedoch im Zuge der Weltwirtschaftskrise ab. Er ging zurück in die Niederlande und arbeitete dort in der Folge als Sportkarrikaturist und Illustrator. Zunächst für die VARA, die öffentlich-rechtliche Rundfunkgesellschaft der Niederlande, die traditionell der Sozialdemokratie und der Arbeiterbewegung nahe stand. Später für verschiedene Zeitungen und Buchpublikationen. Ab 1948 machte sich Bob Uschi auch als Radio-Autor einen Namen. Gemeinsam mit Gabri de Wagt begründete er die moderne niederländische Radiodokumentation. 1966 wurde er Leiter der Abteilung Hörspiel und Radiodokumentation beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Später leitete er die Abteilung Radiodokumentation. Seine Sendung “Radiorama” (1968-1974) zählte zu den populärsten Programmen im niederländischen Rundfunk. „Die Vögel singen noch in Newe Ur“ wurde 1969 mit dem Prix Italia ausgezeichnet. Eine zweite Dokumentation von Bob Uschi, zusammen mit Joop Heintz, erhielt den Prix Italia 1977: „Het jongetje heet Hans“.
Ausgewählte Radiostücke:
„Les enfants du paradis“ (SFB 1971)
„Die Kinder von St. Nikolaus“ (SFB 1972)
„Tränen Gottes“ (NOS/SFB 1973)
„Das Wunder von Agua de Dios“ (NOS/SFB 1976)
„Die Musik der armen Leute“ (SFB 1988)
Stichwörter:
Kibbuz, Nahostkonflikt, Israel, Krieg,
8 Uhr 15, OP III, Hüftplastik
Peter Leonhard Braun schrieb schon akustisch, als seine Texte noch von einem Schauspieler im Studio verlesen wurden. Sein Stil wartete sozusagen auf neue technische Möglichkeiten. In dem Stück „Londoner Abend“ (SFB 1964) zum Beispiel schildert er ein Hunderennen. Er komponiert mit Worten das Crescendo der Erregung im Stadion, die anfeuernden Zurufe, das Jaulen der Tiere, das Sirren des elektrischen Hasen. Dann steuert der Regisseur Braun auf den dramaturgischen Höhepunkt zu und reißt den Regler hoch. Man hört die von BBC-Mikrofonen eingefangene Atmosphäre im Stadion, eindrucksvoll laut, aber flach – eine Monokulisse. Damit war Braun nicht zufrieden.
Als dann kurze Zeit später der Sender Freies Berlin beschloss, die Stereofonie nicht nur für Konzerte, sondern auch für Wortproduktionen einzusetzen, wollte Braun unbedingt dabei sein (siehe audio 1). Er kehrte von London in seine Heimatstadt zurück und schlug vor, die neue Technik in einer Dokumentation über die industrielle Produktion von Hühnerfleisch auszuprobieren. Damit stieß er zwar auf Vorbehalte – gackern links und gackern rechts, was soll das? – aber das Stück „Hühner“ wurde 1967 realisiert. Es war die erste stereofone Dokumentation im deutschen Radio.
Braun war begeistert von der neuen Unmittelbarkeit der stereofonen Aufnahmen. Jetzt konnte er einen akustischen Raum gestalten, den Hörer mitreißen, das Ohr direkt attackieren. Endlich war die Geräuschebene ein gleichberechtigter Partner der Geschichte, nicht nur die Illustration eines Textes. Und drei Jahre später entstand dann das Stück, mit dem Braun den letzten Schritt hin zu seinem dramaturgischen Ideal der akustisch vollkommen aus Originaltönen komponierten Geschichte ging. Das Feature über eine Hüftoperation – Braun wählte nie idyllische Themen – besteht aus drei Elementen: einer lebhaft erzählenden Patientin, Saima Nowak, einem Operationsteam von Ärzten und Schwestern, die sich über jeden Handgriff verständigen, und einem vielfach übersprochenen Diktaphon, auf dem die Operation protokolliert wird. Kein Erzähler, keine Orientierung. Die Sendung beginnt mit der Stimme der Narkose-Ärztin, die die Spritze geben will und endet mit dem Aufwachen von Frau Nowak aus der Narkose.
Einem kleinen Text zur Ursendung kann man entnehmen, dass diese Form des akustischen Erzählens im Jahr 1970 nicht den Hörgewohnheiten entsprach. „Diese Sendung ist ein Experiment“, heißt es da. Und später: „Die Aufgabe oder das Experiment dieser Sendung ist, einen akustischen Film herzustellen (siehe audio 2). Da beschreiben, erklären oder kommentieren keine Sprecher und Schauspieler mehr, was gerade geschieht, sondern das akustische Geschehen bleibt allein, es soll sich selbst erzählen. Es geschieht also nichts weiter als eine Stunde Realität. Und da mittendrin hängt das Doppelmikrofon, das sensible, stereofone Ohr – und hört genau zu.“ (aus den Sendeunterlagen des RBB)
Natürlich wusste Peter Leonhard Braun, dass Realität im Radio nicht einfach „geschieht“. Er wusste, dass Mikrofone nicht einfach zuhören. Er wusste, dass er mit seinem SFB-Team fünf Mal bei fünf verschiedenen Operationen die Mikrofone aufgebaut hatte und dass er, der Autor und Regisseur, aus den bespielten Bändern die fugenlose Illusion einer Live-Operation im Studio mit Schere und Klebeband montiert hatte. Und er wusste auch, dass die Zuhörer zwar glauben, gerade würde der Oberschenkelhals von Frau Nowak lautstark durchgesägt, dass es aber nicht so war. Oder genauer: dass es darauf nicht ankam. Viele Jahre später bei einer Vorführung des Stücks 2007 in der Veranstaltungsreihe von „RadioTesla“ erzählt Braun auch, dass er die Diktaphon-Sequenzen mit einem markanten Geräusch aufgerüstet hat, das er nachträglich im Funkhaus mit Hilfe der Lichtschalter aufgenommen hatte (s. Tanja Runow: „Von der Welt erzählen in vielen Stimmen“, Magisterarbeit 2007, p71).
Im Jahr 1970 und für Peter Leonhard Braun stand der neue SOUND, die Kunstform des akustischen Erzählens im Vordergrund und nicht der Handwerkskasten der Radiokunst (siehe audio 4). Der medienkritische Diskurs über Täuschung oder Manipulation entzündete sich ohnehin eher an Stücken aus der Abteilung Hörspiel wie zum Beispiel dem „Staatsbegräbnis“ von Ludwig Harig (1969) oder dem „Preislied“ von Paul Wühr (1970. Aber das würde jetzt zu weit führen.
Für Generationen von Autoren war das Originalton-Feature das selten erreichte Ideal. Aber nicht alle Stoffe lassen sich so erzählen. Und nicht alle Hörer:innen schätzen gleichermaßen das 100-Prozentige eines O-Ton-Features. Peter Leonhard Braun erzählt mit Belustigung, wie er als Leiter der Feature-Abteilung des SFB den beliebten Radioerzähler Horst Krüger vergeblich zum Einsatz von akustischen Mitteln zu animieren versuchte.
„Horst Krüger war in den 60er, 70er, 80er Jahren der führende Reiseliterat in der Bundesrepublik. Dem habe ich alle unsere großen Produktionen vorgespielt, das hatte aber keinerlei Einfluss auf ihn. Horst Krüger ging auf eine Reise und was er dort sah, setzte er in sich selbst um und spuckte es irgendwann wieder aus: In einem unmöglichen Manuskript von ungefähr 36, 37 Seiten Länge, eng getippt. In einer Stunde kann man bestenfalls 32 Seiten unterbringen. Und dann sprach er dieses Manuskript auch noch selbst und er war ein schlechter Sprecher. Horst Krüger las rasend schnell, sodass der Regisseur eigentlich keine weitere Funktion hatte als ihn dauernd zu bremsen. Das Publikum liebte aber diese Sendungen. Bei meinen ausgefuchsten Produktionen waren wir glücklich, wenn wir 30-40 Hörerbriefe kriegten. Wenn Horst Krüger eine Produktion in seinem Eilzugtempo las, meldeten sich mindestens 300 Leute.“ (Bremer Hörkino 2010)
Marianne Weil
Gespräch mit Peter Leonhard Braun im Mai 2018
1. Das Feature wird akustisch
Ich erinnere mich noch sehr deutlich an folgende Szene: Ich lebte damals in London und kam aus London mit einem Skript nach Berlin, um es vorzustellen und zu verkaufen, und platzte also in eine Chefsitzung hinein, wo der führende Toningenieur Krüger – wir nannten ihn Krüger Krüger, der Stereofonie wegen – uns anzuwerben versuchte, uns mit diesen neuen Möglichkeiten zu befassen. Eisige Ablehnung. Wir waren Literaten. Ich war der einzige, der damals, Zigarre rauchend, von einem neuen Handwerkskasten sprach und gesagt hat: Ich mache das. Ich schrieb dann aus London an meinen Feature-Chef: Ich mache was über die erste lebende Maschine. Das Huhn. Und ich mache das in Stereophonie, das Huhn, und dafür muss ich mit einem Toningenieur Brutanstalten, Gehege, Legefrabriken besuchen, und der Toningenieur muss dabei sein, weil es sich um eine neuartige Form von Aufnahme und deren Verwendung handelt.
Wir machten das also!
Wir waren nun als Pioniere unterwegs, wir hatten noch keine mobilen Aufnahmegeräte, wir konnten nicht aufnehmen, ohne eine Steckdose in der Nähe. Das Eigentliche war aber, dass du mit einer ganz neuen Form des direkten Zugriffs bei durchs Mikrofon zum Hörer rüber, den Hörer nicht nur etwas beschreibend berührst, sondern ihn reinziehst in diese neue akustische Realität. Das war der Punkt. Und ich weiß genau, wie ich damals die erste Szene baute über Hühner – das war ein alter Mono-Ton, was wir im Archiv hatten, über Hühner, die gaaagputtputtputt, sind so zehn Stück, die rennen im Hof rum und krähen, wenn da also ein Ei gelegt wird. Genau, das hab ich also beschrieben – in mono. Und dann hab ich gesagt in einer kurzen lapidaren Sprache: Quatsch, zehn Hühner – hundert, Tausend, halbe Million – und dann hab ich die Stereobühne aufgezogen, und ich stand also in der ersten aufgenommenen Batterie mit Zehntrausend Hühnern drin, und das ist gewaltig, das war wie eine Filmaufnahme, und meine Hörer draußen hab ich sozusagen genommen und hier reingepackt. Das wars.
2. Den Schreibtisch verlassen, wie ein Komponist arbeiten
Also Braun ist jetzt unterwegs, Braun hat den Schreibtisch verlassen, Braun schreibt nicht mehr, sondern Braun nimmt auf, so wie auch ein Filmteam arbeiten würde und wird aus diesen Partikeln seine Dokumentation zusammenstellen. Und das ging in einem Zeitraum von vier fünf Jahren in langsamen Entwicklungsschritten. Sie müssen sich über eines klar sein: Wenn Sie schreiben, ist der erste Satz die Keimzelle, das Rückgrat der Angelegenheit. Der ist wie ein Ei, aus dem alles herauswächst. Und jetzt bricht mir meine eigene Verankerung weg, die Sprache, jetzt soll ich plötzlich wie eine Art Komponist verhalten und aus akustischem Material – nicht mehr das Wort ist der Anfang, sondern der Ton – das war wahnsinnig schwer für mich, dieses Verlassen der festen Plattform der eigenen Sprache und Ausdrucksfähigkeit und das Herübergehen in etwas Luftiges, den Ton – das war der Punkt.
Und diese Entwicklungsschritte, wo wir uns pro Produktion immer weiter vorangetastet haben, immer im Zurückdrängen der Sprache, also immer weniger erklärt, immer knappere Sätze benutzt, bis zur Hüftplastik, wo kein Wort mehr vorkommt, das irgendein Schauspieler spricht. Sondern die Hüftplastik ist also eine Komposition, die eine schwierige Operation, damals fast die größte und schwierigste, darstellt, nur aus aufgenommenen Materialien. Und deshalb hab ich damals geschrieben „Das ist ein Experiment“, denn das wusstest du ja nicht, als wir das Ding rausgelassen haben, ob sich das vermittelt oder nicht.
3. Frau Nowak, eine geborene Erzählerin
Und dann traf ich Frau Nowak und Frau Nowak ist eine geborene Erzählerin, und Frau Nowak trank gerne Sekt. Und ich habe dann Frau Nowak vielleicht zehn fünfzehn Mal besucht, hab jedes Mal einen Piccolo mitgenommen, und dann haben wir beide, ganz persönlich, Schritt um Schritt besprochen, wie das ist, wenn du das hast. Diese langsame Einschränkung des Gehens, das Anwachsen des Schmerzes, das Nicht-mehr-schlafen-können, das Kämpfen um den Operationstermin, das Kämpfen an deinem allgemeinen Arzt vorbei, der ein Stümper ist, das Testament machen, das war ja ne Operation damals, die nur alle zwei bis drei Wochen vorkam und nur vom Chefarzt gemacht wurde.
Frau Nowak ist dann auch diejenige, die nachts bevor sie operiert wird, einen draufmacht und diesen fabelhaften Satz prägt, wo Licht ist, gehen wir rein, und auch in eine Disco geht und mit sonem jungen Spund tanzt, ich zitiere sie jetzt, ich habs nach so vielen Jahren noch in Erinnerung, „und der denkt dann vielleicht, wat will denn die Olle hier, und ich hab das ganz geschickt gemacht, auf meinem gesunden Bein gestanden und mit dem andern son bisschen gewackelt – und morgens dann die Operation. Dieser Zugriff eines so vitalen lebendigen Menschen, der das erzählt und diese Schritte macht, der Verzweiflung, der Entschlussfassung und der Genesung – wie sie erzählt, und dann hab ich mit meinem Rollwagen zehn Schritte gemacht und dann dreißig Schritte gemacht und am Schluss kommt dieses große Geschenk – sie träumt, und sie träumt, dass sie die Treppe herunterläuft, immer zwei drei Stufen auf einmal, und wie sie das erzählt, willst du dir selbst als Gesunder sone Operation machen lassen.
4. Konferenz in Frankfurt – Hörbarmachen der Schnitte
Ich erzähle Ihnen jetzt eine Geschichte. Wir hatten eine Sitzung in Frankfurt am Main, viele viele Jahre her, und wir stellten – Berlin, mein Chef Berthold die Möglichkeiten der Sterefonie vor mit Beispielen und hatten ein volles Auditorium aus Redakteuren, aus Autoren und so weiter, und die begannen nach ungefähr drei vier Minuten, Zeitungen hervor zu holen und Zeitung zu lesen. Null Interesse. Warum? Man hatte jeden Schnitt zu zeigen. Das war die Auffassung damals. Nur wenn ich einen Schnitt deutlich mache, zerbreche ich einen Kommunikationsvorgang. Ich habe jetzt mit Mühe meinen Hörer eingefangen, der hört mir wirklich zu und jetzt mach ich plötzlich einen Schnitt, hörbar, und dann muss ich ihn wieder neu ranholen und dann bis zum nächsten Schnitt. Also es war wirklich eine Konfrontation von zwei verschiedenen Arbeitsauffassungen. Dort war es also das politisch manifestierte Sichtbarmachen von Realität und hier bei uns war es die Kunstform des Erzählens! Und, es war ganz merkwürdig, was damals alles gesagt wurde in der Verneinung, dass Radio auch eine bestimmte Süffigkeit, einen bestimmten Schmelz, eine bestimmte Kraft entfalten muss, also kein Denkvorgang ist, den ich immer wieder in Kapitel zerschneide, sondern der durchzugehen hat, weil ich meinem Hörer nicht nur etwas erzähle, ich nehme ihn ja mit – das kann ich nicht, wenn ich jeden Schnitt hörbar mache.
In dieser Konferenz war auch die Meinhof, die ja damals auch Features schrieb, sie vertrat vehement die Auffassung, dass also jede Form lukullischen Hörens unangebracht ist. Man hat auch das Honorar mit den aufgenommenen Leuten zu teilen – wir hatten wirklich zwei radikale Positionen, so, jetzt sind Sie wieder dran.
Biografie
Peter Leonhard Braun, geboren am 11. Februar 1929 in Berlin, studierte Volkswirtschaft an der Freien Universität Berlin und schloss 1953 mit einer Arbeit zur „Soziologie des Rundfunks“ ab. Er schrieb Feuilletons für das Berliner Studio des NWDR und den Sender Freies Berlin aus Berlin, Paris und London. 1967 entstand „Hühner“, die erste stereofone Dokumentation im deutschen Radio. Es folgten Maßstäbe setzende Programme: „Catch as Catch Can“ (1968), „8 Uhr 15, Operationssaal 2, Hüftplastik (1970) und „Hyänen“ (1971). Für „Glocken in Europa“ (1973) wurde er mit dem Prix Italia ausgezeichnet. 1973 initiierte er die „Internationale Feature Konferenz“, die seitdem jährlich wechselnd Feature-Macher aus aller Welt zusammenbringt. Von 1974-1994 war er Leiter der Feature-Abteilung des SFB. Von 1979 an war er verantwortlich für den Hörfunksektor des Prix Futura Berlin, ab 1988 maßgeblicher Organisator des Radio- und Fernsehwettbewerbs PRIX EUROPA. 2012 wurde Braun mit dem Axel-Eggebrecht-Ehrenpreis ausgezeichnet.
Ausgewählte Radiostücke
„Hühner – Eine sterophone Dokumentation“ (SFB/BR/WDR 1967)
„Catch as catch can“ (SFB/WDR/BR/SR 1968)
„Hyänen, Plädoyer für ein verachtetes Raubtier“
(SFB/WDR/BR/NDR/SR/SRG Basel/NOS Hilversum 1971)
Stichwörter:
Medizin, Operation, Arbeitswelt
So long good-bye
1977. Die Hansa-Tonstudios in Berlin. Hat nicht genau in diesem Jahr an diesem Ort David Bowie „Heroes“ aufgenommen? Was könnte man sich da für Features vorstellen – Legenden, Anekdoten, Rock’n Roll. Doch Harun Farocki zeigt uns ein ganz anderes Bild.
Drei Tage lang sind wir Zeuge der „Serienproduktion einer Single-Schallplatte“. So drückt es der Erzähler aus, mit fester, entschlossener Stimme, in der auch dégout mitschwingt, gesprochen von Achim Baumann. Dieser Erzähler ist mit klarer Haltung und kapitalismuskritischem Vokabular ausgestattet. Dass er die Plattenproduktion, die er begleitet, für ein geist- und seelenloses und rein profitorientiertes Unternehmen hält, macht er von Anfang an klar. Aber er ist kein Verlautbarer linker Deklarationen, wie es sie zu dieser Zeit häufig gibt. Er hat wache Augen und Ohren, und er hat Empfindungen.
Die Szenerie, durch die er uns führt, ist in ihrer Einheit von Ort und Zeit geradezu aristotelisch. Drei Tage im Studio, und er schneidet alles mit. Seine Mittel, dieses Material zum Sprechen zu bringen und seine Haltung dazu deutlich zu machen, sind ganz einfach. Er folgt der Chronologie. Er will kein Drama zeigen, sondern die erstarrte Routine der Serienproduktion. Also lässt er nacheinander die Musikerbrigaden aufmarschieren, die jeweils ihre Spuren beisteuern. Mit ihren Kollegen kommen sie nicht in Kontakt, am weiteren Ablauf der Produktion sind sie nicht beteiligt, und abliefern sollen sie ausschließlich Standardware: den Euro-Disco-Sound, mit dem zu dieser Zeit Gruppen wie Boney M. erfolgreich sind. Was sie Schicht für Schicht einspielen, soll die Leute auf die Tanzfläche locken. Farocki zeigt ihr Making Of, aber so, dass sie als kalt konstruierte Dutzendware erscheint.
Die Typen haben schon mehr Charakter. Der abgebrühte Toningenieur, den nichts mehr schocken kann. Und als Gegenspieler der redselige, fahrige Produzent mit seinem markant schlechten Englisch. Zusammen mit dem Abklatsch von amerikanischer Discomusik, den sie fabrizieren, zeigen sie eine Piefigkeit, die man von den legendären Hansa-Tonstudios nicht erwartet hätte. Als dann Sharon, die Sängerin, ins Studio kommt, wird aus der Werksdoku eine Tragikomödie. Zwar ist ihre Stimme soulig, wie es das Genre verlangt, aber sie kommt mit der Textverteilung nicht klar und der Produzent macht mit seinen dilletantischen Anweisungen alles nur noch schlimmer. Der Schrei aus Frust, Erschöpfung und Überdruss, in dem die vergeblichen Versuche, eine Textzeile einzusingen, kulminiert, gehört zu den magischen, enthüllenden Momenten, wie sie der O-Ton zeigen kann.
Über vierzig Jahre später traf ich Harun Farocki zum Gespräch über diese Produktion. Dem grimmigen Ernst, mit dem seine Erzählerstimme der 70er Jahre ausgestattet ist, setzt der Farocki der 2010er Jahre manche Relativierung entgegen. Radio war nur eine Durchgangsstation, es hat sich auf lange Zeit nicht gerechnet. Seine damalige Lesart einer reinen Industrieproduktion ergänzt er durch die Erinnerung an den Discobesitzer in Hannover, der mit seinem ahnungslos und ohne vorheriges Proben durchgeführten Manöver schon wieder ein bisschen sympathisch wirkt. Vor allem aber seinen damaligen Erzähler will er nicht mehr gelten lassen, das schlaue nachträgliche Kommentieren eines im Moment aufgenommenen Tones habe er sich schon lange abgewöhnt. Und doch, die grundlegende Beobachtung sieht er heute genauso wie damals. Die Art, wie das „im Stil eines kleinen Handelsunternehmens“ arbeitende Projekt Schicht für Schicht einen Standardsong zusammenschraubt, gilt ihm als „Verwohlfeilerung der Ware“ im Marxschen Sinn – der Betrieb wird durch die Industrialisierung entfremdeter und das Produkt schlechter. Und vor allem das Zitat von Franz Jung, mit dem der damalige Erzähler schließt, sieht Farocki heute ganz genau so. „Alles, von der Wiege bis zur Bahre, ist in Musik eingewickelt.“
Muss man das alles heute nicht ganz anders sehen? Ist das ganze Verfahren im Vergleich mit der heutigen Produktion von Popmusik nicht rührend altmodisch, haben die Bläser, Streicher und Chorsängerinnen nicht eine geradezu gildenmäßige Handwerkskunst, die heute ausgestorben ist, und haben nicht die 70er Jahre „the art of studio“ in die Musik eingeführt, für die Farockis kapitalismuskritische Analyse blind ist? Und überhaupt: macht der in jedem Aspekt dieser Produktion extrem greifbare Sound der 70er Jahre Farockis Stück nicht zu einem Kuriosum – können wir es mit heutigen Ohren überhaupt ernst nehmen?
Die Antwort deligiere ich an die Hörerinnen und Hörer – die nach Belieben weiterdenken können. Es geht ja nicht nur um Musik und Pop. Es geht um Herstellung von Illusionen, Traumfabriken, Eingespannten in ein System. Mir persönlich bleiben zwei Dinge. Zum einen passiert hier etwas, das wir oft erfahren haben bei der Recherche zu „Wirklichkeit im Radio“: Vergangene Gegenwarten, die damals eingehend beobachtet wurden, lassen sich heute erinnern und verlieren etwas von ihrer historischen Patina. Schlichter gesagt: die 70er Jahre werden hier lebendig, und zwar nicht als Klischee wie in unzähligen Dokus, sondern auch durchaus in ihren banalen und unansehnlichen Seiten. Und das zweite: das Hören dieses Stücks macht wach, weil man direkt dabei ist. Und die kritische Autorenhaltung distanziert nicht, sie bringt einen noch näher heran ans Geschehen.
Ingo Kottkamp
Harun Farockis Rückblick auf „So long-goodbye“ im Jahr 2010
Biografie
Harun Farocki (1944-2014) gehörte zu den wichtigsten deutschen Dokumentarfilmern. In Filmen, Installationen, Schriften, einer umfangreichen Lehr- und Kooperationsstätigkeit und für eine Zeit lang auch im Radio setzte er Impulse, die nachhaltig weiter wirken: unter anderem im Harun Farocki Institut, das Dokumentarschaffende vernetzen und seine Praxis, Film als Erkenntnisinstrument zu nutzen, erforschen und weiterentwickeln will.
Seine Lebensdaten: 9. Januar 1944 geboren in Nový Jicin (Neutitschein), gelegen in dem damals von den Deutschen annektierten Teil der Tschechoslowakei. 1966-1968 Studium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (West). 1974-1984 Autor und Redakteur der Zeitschrift Filmkritik , München. 1998-1999 Speaking about Godard / Von Godard sprechen, New York / Berlin (Zusammen mit Kaja Silverman). 1993-1999 visiting professor an der University of California, Berkeley.
Seit 1966 über 100 Produktionen für Fernsehen oder Kino: Kinderfernsehen, Dokumentarfilme, Essayfilme, Storyfilme. Seit 1996 zahlreiche Gruppen- und Einzelausstellungen in Museen und Galerien. 2007 mit Deep Play Teilnahme an der documenta 12. Seit 2004 Gastprofessor, von 2006-2011 ordentlicher Professor an der Akademie für Bildende Künste Wien. 2011-2014 Projekt Eine Einstellung zur Arbeit, mit Antje Ehmann. Harun Farocki starb am 30. Juli 2014 bei Berlin.
Ausgewählte Radiostücke
„Subjekt? – Objekt? Aus dem Leben des Rentners W. – Ein Porträt“ (WDR 1973)
„Berufsarbeit und Entfremdung – Sechs Studien zum Bewußtsein abhängig Arbeitender“
(WDR 1974)
„Barfüßiges Denken. Berufstätige zu ihrer Arbeit“ (WDR 1976)
„Gespräche mit Zeitgenossen“ (WDR 1976)
„Das große Verbindungsrohr“, Regie: Walter Adler (WDR 1976)
„Das hohe Fenster oder Das Halsband des Todes. Eine Montage“, Regie: Otto Düben (SDR 1977)
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