Voice of America

von Ferdinand Kriwet

Voice of America
Manifestation I. Hörtext VII
Von Ferdinand Kriwet
Regie: der Autor
Produktion: WDR/SWF 1970
Länge: 34'26

Binge-Watching 1969: ein Fernseh-Marathon in New York wird zum furiosen Soundtrack. 'Eine der mächtigsten Stimmen Amerikas', gehört und montiert vom Medienkünstler Ferdinand Kriwet.

Über Ferdinand Kriwet ist viel geschrieben worden. Er ist ein Pionier der Multimediakunst und ein Protagonist des Neuen Hörspiels. Seine grafischen, plastischen und installativen Arbeiten waren wegweisend. Als Schriftsteller mit einem sehr erweiterten Textbegriff war er seiner Zeit voraus. Designerinnen, Hörspielmacher, Theatermenschen und Schreibende – alle können sich auf Kriwet berufen. Und nun melden sich auch noch wir zu Wort, wir vom Projekt Wirklichkeit im Radio mit seinem Fokus auf Features und Dokumentationen zum Hören.
War Kriwet denn ein Featureautor?
Nein – in dem Sinne, dass er nie von einer Featureredaktion beauftragt wurde und seine Radioarbeiten nie als Feature angekündigt worden sind. Sie wurden als Kunst rezipiert.
Jein – in dem Sinne, dass er umfassend und radikal mit dokumentarischen Material arbeitete, bloß nicht so wie konventionelle Featuremacher.
Ja – in dem Sinne, dass die Herangehensweise seiner Hörtexte für jede und jeden, der oder die dokumentarisch arbeitet, inspirierend und von Belang ist. Und das gilt besonders für Voice of America.

Es ist die Zeit der Ferien und der großen Hitze.

Eine touristisch für New York mörderische Zeit, während der jeder, dem es möglich ist, New York verlässt.

Und im Jahr 1969 die Zeit der Mondlandung, deren mediale Begleitung Kriwet in einem anderen Projekt erkundete. Diese Sätze stehen in Kriwet Einführung zu Voice of America bei der Ursendung 1970. Eine sehr aufschlussreiche und trotz ihres manchmal etwas steifen Tons auch sehr hörerzugewandte Beschreibung der Sendung und ihrer Entstehung. Es sind Sätze, die auch Teil eines Reisefeatures sein könnten. Die Featuregeschichte ist voll von Autorinnen und (häufiger) Autoren, die auf Reisen gehen und dem mutmaßlich zu Hause gebliebenen Publikum davon berichten. In die USA fuhren sie besonders gern und dort am liebsten nach New York. Die Dissertationsschrift zum Thema „Die New Yorke des Radiofeatures“ ist noch zu vergeben. Voice of America bekäme darin einen exzentrischen Platz, vielleicht zu Unrecht, denn wer kann schon sagen, wo die Mitte und der Rand sind. Jedenfalls interviewte Kriwet keine Minderheiten und gab keine Impressionen aus Manhattan zum Besten. Er ging ins Hotelzimmer und schaute Fernsehen.

Ausgangspunkt […] von VOICE OF AMERICA sind […] Tonbandmitschnitte amerikanischer Fernsehprogramme. Diese Aufnahmen entstanden vom 9. Juli bis 23. August 1969 in der Suite 829 des Fifth Avenue Hotels, […] New York […]. Während dieser Zeit hatte ich mir zwischen 8 und 4 Fernsehgeräte gemietet, sodass ich die Programme gleichzeitig miteinander vergleichen und mir die Sendungen oder Einstellungen aussuchen konnte, von denen ich besonders beeindruckt war und die mir typisch zu sein schienen für das amerikanische TV.

Dieser Perspektivwechsel ist so einfach wie schlagend. Wie komme ich der US-amerikanischen Wirklichkeit auf die Spur? Indem ich mich der Beschallung, Beflimmerung und Berieselung aussetze, der das ganze Land permanent ausgesetzt ist. Und zwar in einer Gründlichkeit, einer Art dokumentarischen Method Acting, die an spätere Selbstversuche wie Super Size Me von Morgan Spurlock (2004) oder Anderswelt. Ein Selbstversuch mit rechten Medien von Hans Demmel und Friedrich Küppersbusch (2021) erinnert. Dabei bescheidet sich Kriwet: nicht eine Analyse des US-amerikanischen Fernsehens will er geben, sondern den „Eindruck eines Eindrucks“: ein 35-minütiges Substrat dessen, was er bei seinem fünftägigen Dauerglotzen wahrgenommen, gehört und empfunden hat. Er tut dies, anders als die eben erwähnten Dokumentationen, ausschließlich mit dem aufgenommenen Material; die Rahmen- und Ich-Erzählung verlegt er in die Einführung. Radikale konzeptuelle Strenge – der Fernsehalltag früh morgens bis spät abends – und eine genauso radikale Subjektivität treffen hier aufeinander. Verbunden und angetrieben werden sie von einer manischen Akribie. Man kann, wie auch bei anderen Arbeiten Kriwets, fast nicht glauben, dass diese flirrenden Montagen lange vor der Einführung des Digitalschnitts gemacht worden sind. Hören wir in ein paar Stellen rein.

4’37–7’27

Tief ↔ mittelhoch, rauh ↔ sanft, aufgebracht ↔ beruhigend: zwei Voice Characters werden per Schnitt auf eine gemeinsame Hörbühne gebracht und streiten wie im Puppentheater um die akustische Vorherrschaft. Die eine gehört einer namenlosen Hausfrau, die eine Wutrede gegen steigende Preise hält: den „amerikanischen Habenichtsen“ und den „restlos Ausgepowerten“ ordnet Kriwet sie zu. Die andere singt eine Textzeile, die einem vielleicht als Ohrwurm hängenbleiben kann: „Into your life there will come friends.“ (Es ist Jackie Cain vom Vokalduo „Jackie and Roy“ und sie singen „Someone Singing“ von Donovan, aber das ist egal; es ist eben ein Lied, das gerade im Fernsehen läuft.) Kriwet lässt die zweite gewinnen und nennt ihr Songfragment „Durchhalteparole“. Die simple Wiederholungsschleife der immer gleichen Textzeile lässt er so lange stehen wie keinen anderen Ausschnitt. Er bildet damit seinen Eindruck ab, dass das Fernsehen vor allem einlullen und ruhigstellen will, und erzielt einen ähnlich hypnotischen Effekt wie 36 Jahre später der Hip-Hop Künstler J Dilla in seinem Album Donuts.

8’19–9’19

Am meisten scheint das Fernsehen zu sich selbst zu kommen, wenn es einfach nur sagt, dass es da ist. Die Collage von Sendernamen und akustischen Logos entwickelt den stärksten Groove und wirft den tiefsten Höranker. Will Kriwet das kritisieren, anprangern, offenlegen – oder auch feiern und sich und uns der Suggestion überlassen – oder einfach zeigen? Jedenfalls sind die Sounds da. So sehr, dass man meinen kann, die Collage sei nicht gemacht, sondern die Sounds hätten sich von selbst mit ihren Partnersounds verbunden.

21’05–23’58

Töten, sterben, zählen – eine Stretta aus Meldungen über Tote auf amerikanischer und vietnamesischer Seite im Vietnamkrieg. Die Nennung der Zahlen wird zur Manie, und je mehr Tote von den Fernsehstimmen aufgelistet werden, desto weniger fühlt man, dass es Menschen waren. Auf die vietnamesischen Toten folgt die Anpreisung von Chemiewaffen und danach eine Werbung für Insektenvernichtungsmittel.

25’18–26’19

Jetzt sind Börsenberichte dran, aber eigentlich findet hier das gleiche statt wie bei der Songschleife und der Collage von Senderkennungen. Die geläufigen Reporterstimmen potenzieren sich, indem sie miteinander reagieren; eine Suada entsteht, bei der es eigentlich egal ist, worum es geht.

31’53–34’15

„A statement by Senator Edward M. Kennedy“. Das Komplementärstück zur Reizüberflutung ist die salbungsvolle Rede. Ein Politiker wird persönlich und klingt dabei wie ein Pastor. Die rhetorisch abgemessenen Pausen haben einen ähnlichen Effekt wie die Pausenlosigkeit des vorher Gehörten.

In gewissen Sinne ist Voice of America ja ein rührendes Zeitdokument von vorgestern. Dass einer extra nach New York reist, um lineares Fernsehen aufzunehmen, gehört zur medialen Steinzeit. Auch der akustische Gestus von 1969, den er festgehalten hat, ist gealtert. Lieder, Ansprachen, Werbespots – alles klingt heute anders. Und doch fühlen sich Kriwets Stücke so viele Jahre nach ihrer Entstehung nicht nach Museum an, sondern modern und aufregend. Denn er hat sein Material nicht nur angeschaut und in paar beispielhaften O-Tönen gezeigt. Er ist förmlich hineingekrochen, hat sich vom Material bestrahlen lassen, und dieser starken Energie, mit dem das Material auf ihn einströmt, hat er mit seiner extrem aufwändigen Sortier-, Schnitt- und Montagetechnik eine ebenso starke Energie entgegengesetzt. Auf diese Weise konnte das Material reagieren, sich transformieren und in die Zukunft weisen. Denn im Kriwet-Sound, dafür lassen sich viele Beispiele finden, klingt an, was später kommt.

Ingo Kottkamp

Biografie

Ferdinand Kriwet, geboren 1942 in Düsseldorf, gestorben 2018 in Bremen, Schriftsteller und MixedMedia-Künstler. In den 1960er Jahren wurde er mit seinen innovativen Radioarbeiten, den „Seh- und Hörtexten“, bekannt. 1975 Karl-Sczuka-Preis für „Radioball“ (WDR 1975), 1983 Premios Ondas für „Radio“ (Studio akustische Kunst, WDR/Radio France/Sveriges Riksradio 1983).

Ausgewählte Radiostücke

„Offen (Hörtext 1)“, SWF 1962.
„Jaja (Hörtext 2)“, 1965.
„Reaktion (Hörtext 3)“, 1965.
„Oos is oos (Hörtext 4)“, SWF 1968.
„One Two Two (Hörtext 5)“, WDR/SFB 1968.
„Apollo Amerika (Hörtext 6)“, SWF/BR/WDR 1969.
„Voice of America (Hörtext 7)“, WDR/SWF 1970.
„Modell Fortuna (Hörtext 8)“, WDR 1972.
„Campaign (Hörtext 9)“, WDR/SFB/ORTF 1973.
„Ball (Hörtext 10)“, WDR/NDR 1974.
„Radioball (Hörtext 11)“, WDR 1975 (Karl-Sczuka-Preis).
„Zahl (Hörtext 12)“, BR 1976.
„Pause (Hörtext 13)“, WDR 1977. (Hörspiel des Monats Juni)
„Dschubi Dubi (Hörtext 14)“, HR/WDR 1977.
„Radioselbst (Hörtext 15)“, WDR 1979.
„Radio (Hörtext 16)“, WDR/Radio France/Sveriges Radio 1983. (Premios Ondas)
„Rotoradio“, Deutschladradio Kultur 2012 (Hörspiel des Monats Juli 2012).
„Radio-Revue (Hörtext 19)“, DKultur/WDR 2013.

 

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