Schnee auf Pflaumenblüte

von Malte Jaspersen

Schnee auf Pflaumenblüte
Von Malte Jaspersen
Regie: der Autor
Mit: Hagi Yurie, Hirazawa Yoshimasa, Ikura Chizu, Nishimura Yukiko, Okubo Masayoshi, Ota Naomi, Sano Touemon, Yamazaki Asuka, Yamazaki Hisae, Yokota Kouichi, Yokota Miyuki und Marina Behnke, Verena von Behr, Wolfgang Condrus, Martin Engler
Ton: Monika Steffens, Peter Avar
Produktion: RBB/NDR 2004
Länge: 53'13

Menschen im Frühling – kann das ein Featurethema sein? Ja, wenn man die Selbstironie nicht verliert und es trotzdem ganz ernst nimmt.

Wir schreiben das Jahr 2022 und besuchen eine imaginäre Redaktionskonferenz. Die Köpfe rauchen: worum soll es in unserem nächsten Feature gehen? Kollege A ist dran an einem geplanten Agentenaustausch mit weitreichenden geopolitischen und emotionalen Verwicklungen. Kollegin B hat die Geschichte einer politischen Gefangenen, die dank Disziplin und Solidarität ihrer Isolationshaft überlebt hat. Team C hat jahrelang Transition Towns auf mehreren Kontinenten begleitet und kann in einem O-Ton-gesättigten internationalen Feature zeigen, wie die Verkehrswende gelingen kann. Welche story hat den stärksten Impact? Welche hat das Potenzial zu fesseln und mitzureißen? Welche trifft den Nerv der Zeit?
In diesem Moment bekommt unsere vorgestellte Runde Besuch aus der Vergangenheit – genauer gesagt aus dem Jahr 2004. Redakteurin E bittet um Entschuldigung, sie habe sich gerade am Telefon verquatscht mit Autor J, der in Japan lebt. Jedes Jahr sei er wieder aufs Neue fasziniert vom japanischen Frühling. Ob man darüber nicht mal ein Feature machen könne?

 

O-Ton Malte Jaspersen
Das entstand aus ‘nem Gespräch mit Barbara Entrup, für die ich damals beim rbb viele Stücke gemacht habe, und ich glaub, ich hab ihr vom Frühling vorgeschwärmt. Von der Sakura, der Kirschblüte und anderen … anderen Dingen und dann unterhielten wir uns länger drüber und daraus entstand dann die Idee, dieses Stück zu produzieren.
Der Grundgedanke für mich war jetzt kein kulturanthropologisches Stück zu machen, sondern das zu beschreiben, was bei mir in geringerer oder weiterer Entfernung vor der eigenen Haustür passiert. Denn ich lebe ja seit dreißig Jahren mittlerweile hier. Das ist also von daher kein Reisestück, sondern einfach ‘n Stück, in dem ich versuche auch mein Leben hier zu beschreiben.

Obwohl diese Redaktionskonferenz so nie stattgefunden hat, ist vieles an ihr real. Zum Beispiel, dass der Prozess der Annahme von Featurethemen auf sehr, sehr unterschiedliche Weise stattfinden kann. Real sind auch die Argumente, mit denen Redakteurin E vermutlich abgeschmettert werden würde. Real in dem Sinne, dass sie oft vorgebracht werden, und in dem Sinne, dass sie in vielen Fällen auch zutreffen. Sie lauten ungefähr:
Das Thema ist zu allgemein.
Das Thema ist zu harmlos.
Es enthält keine Konflikte. Daher ist abzusehen, dass es in rhapsodische Einzelteile zerfallen wird.
Es verführt zum Exotisieren und zum Japan-Kitsch.
Es ist ein Stoff für Bildungs-, Hausfrauen-, Pantoffelradio.

 

FRAGE: Wie vermeidest du, ins Klischee abzugleiten?
MJ: Ich glaube, indem ich versuche, erstmal nicht zu werten, einfach erstmal alles so aufzunehmen, wie es sich vor meinen Augen oder vor dem Mikrofon darstellt; das ist das erste. Und das zweite ist, dass ich auch jetzt nach diesen langen Jahren in Japan immer noch ‘n Ausländer bin und immer noch ‘n Gefühl der Fremdheit hab, was ich persönlich nicht negativ empfinde. Und diese Fremdheit beinhaltet auch ein Staunen oder Erstaunen oder Überraschungen. Und das waren oder sind Momente, die für mich sehr wichtig sind, weil sie halt mich persönlich berühren und über diese Situation kann ich etwas über die Gesellschaft erzählen.

Am Anfang einer Featurerecherche wird gesammelt. Was fällt in den Blick und wofür sind die Antennen offen? Manche von Malte Jaspersens O-Tönen und Erzählsträngen haben direkt mit dem „Thema“ japanischer Frühling zu tun. Die Erzählung von einer Bergwanderung zur Zeit der Schneeschmelze ganz am Anfang – quasi Goethes Osterspaziergang, nur im O-Ton und auf Japanisch. Der Brauch, symbolische Schwerthiebe von einem (Kostüm-)Teufel zu bekommen, die von Gier, Neid und Zorn befreien. Deutsche denken da vielleicht an vergleichbare Brauchtumskuriosa wie die Nubbelverbrennung beim Kölner Karneval. Und natürlich die Feste und Ausschweifungen anlässlich der Kirschblüte (auch in Deutschland sehr bekannt und Inbegriff des „Japanischen“) und der Pflaumenblüte (schon etwas weniger bekannt).
Andere Elemente haben so direkt gar nicht mit dem Frühling zu tun. Die Szene beim Finanzamt, wo der Steuerbeamte – aus frühlingshaften Übermut? – ein Auge zudrückt. Denn die jährliche Steuererklärung fällt in eben diese Frühlingszeit, in der viele Menschen auf einmal gute Laune haben. Oder der Verkäufer von Sexspielzeug, sehr lose angelehnt an die ebenfalls im Frühling stattfindende Feier der Fruchtbarkeit.
Dritte Elemente haben zwar Frühlingsbezug, doch die Art des Bezugs ist nicht die erwartete. Vielmehr ist sie launig und ausgelassen; derb, wo man Zartes vermutet hätte; laut, wo man Stilles im Gemüt hatte. Im Gartenklo weht der Wind nicht mehr so kalt an den Hintern – handfestes Frühlingssignal für eine Japanerin. Das meditativ-beschauliche Betrachten der Kirschblüte (Hanami), bekannt aus Funk, Spielfilm und Fernsehen, ist in Wahrheit ein lärmendes Volksfest mit viel Alkohol – und trotzdem anders als beim deutschen Schützenfest, wie Malte Jaspersen im Gespräch sagt. Da hat der Autor dann doch einen „Konflikt“ gefunden, nämlich den zwischen Erwartungen und Realität.
Ein vierter Strang schließlich: Sagen, Legenden, Poesie, Literatur, Lesefrüchte. In wie vielen Features wird das verwendet, um dünne O-Töne aufzupolstern oder sich die Suche nach ihnen gleich ganz zu ersparen. Wie oft wurden Zitate und Musiken, die sich nicht wehren können, missbraucht, um eine Kulisse des jeweils erzählten fernen Ortes herauf zu beschwören – Japan-Feeling aus der Konserve.

 

Wenn ich Besuch aus Deutschland bekomme, dann gibt es zwei Arten. Die einen haben bestimmte Vorstellungen und wollen diese Vorstellungen bestätigt haben. Und die anderen, zu denen ich auch gehörte, als ich das erstemal hier war, die sagten: ich hab keine Ahnung, was hier los ist, ich stell mich, blöd gesagt, erstmal an die Straßenecke und guck, was da passiert. Ohne zu werten. Und diese Haltung beinhaltet ’ne Offenheit. Ich denke mal, man verstellt sich sehr stark den Blick, indem man sofort wertet. Und das merkt man eben auch bei Stücken. Also wenn Autorinnen und Autoren herkommen und sich Zeit lassen und offen sind für das, was ihnen begegnet, dann werden die Stücke anders.

Ich gestehe: dass dieses Feature zustande kam, halte ich für einen Glücksfall. Auf raffinierte Weise gelingt, dass alle soeben vorgebrachten Pantoffelargumente komplett ins Leere laufen. Und es war sogar eines dieser Bildungszitate, die mich endgültig für „Schnee auf Pflaumenblüte“ eingenommen haben.

In alten Zeiten hatte der Monat April viele Namen:
Schattenmonat
Monat der zurückgelassenen Blumen
Monat der makellosen Harmonie
Monat der von Versen hinterlassenen Spuren
Beruhigender Monat
Monat der sechs Gefühle
Monat der Deutzienblüte
Monat der reinen Sonne
Monat, in dem Vögeln Flügel wachsen

Wie kommt man zu solchen Vergleichen? Ich musste an ähnliche Listen aus dem Japan-Klassiker „Das Kopfkissenbuch der Sei Shonagon“ denken. Ein Zauber stellte sich ein, ein Zugang zum und Interesse am Feature, um den sich so viele Stücke vergeblich bemühen. Aber es war nicht einfach nur dieses Zitat. Es war auch seine akustische Inszenierung; wie es gesprochen und vertont war, wie in den Flow der Erzählung eingebettet. Die Nähe zu gleich zwei Kloszenen, darunter auch die „rotzfrechen Mädchen“ beim Kirschblütenfest, „die hinter mir an der gemischten und offenen Toilette warteten und mir, gerade als ich es am wenigsten vertragen konnte, ein paar gepfefferte Bemerkungen zuriefen“. Der Kontrast von Erhabenen, Alltäglichem und Ordinärem, in den Einzelbildern und auch auf der Makroebene, über die ganze Erzählung verteilt. Überhaupt der Flow, die Montagekunst par excellence. Hier passt der Andersche Begriff und beschreibt das Zusammenspiel von Autor/Regisseur Malte Jaspersen mit Toningenieur Peter Avar. Eine fein ziselierte Tuschezeichnung wurde nicht angefertigt, vielmehr wurde aus dem Vollen geschöpft, mit üppigem O-Ton-Personal, mit schönen Schauspielerstimmen, mit Sounds und Musik, oft mehrfach geschichtet, die die jeweilige Stimmung ausmalen und den Grundtenor des Ausgelassenen, Übermütigen, Befreiten und Beschwipsten (vom Sake, von der Musik, von der Geselligkeit und vom Frühling) immer wieder neu variieren. Wie viel hätte da schief gehen, wie schnell hätte das zu Kitsch werden können. Ist es aber nicht: weil alles, was geschildert wird, mit echten Erfahrungen und genauen (subjektiven) Beobachtungen hinterlegt ist. Weil hier mit so viel Liebe gearbeitet wurde: Liebe zum japanischen Frühling und den Menschen, die ihn erleben, erzählt aus der Halbdistanz des Zugereisten, und Liebe zum Radio, seinem Instrumentenkasten und seinen Möglichkeiten.

 

Wenn ich an einem Stück arbeite, dreht sich das immer irgendwo im Kopf mit. Und wenn ich dann eine Musik höre, wo auch immer das ist, ob das im Radio ist oder in ’ner Kneipe oder so, dann hab ich manchmal das Gefühl: oh. Die passt zusammen mit einer Szene, an der ich gerade sitze. Und das kann ich nicht erklären, das ist einfach so. Das Schöne am Feature, finde ich, ist, dass es so viele Möglichkeiten hat, dass es so offen ist, dass es so viele Ansätze gibt, die man verfolgen kann, und da muss ich sagen, da interessiert mich das Reinheitsgebot nicht. Also, entscheidend ist einfach, dass man der Wahrheit und nichts als der Wahrheit, Euer Ehren, verpflichtet bleibt.

Noch mal kurz zurück zu unserer imaginären Redaktionskonferenz. Diese Art Features sind seltener geworden. Das Feuilleton in der Zeitung hat sich ja auch verändert, ist von dem namensgebenden Beiblättchen zu einem Debattenort geworden. Analog dazu sind in der Unterhaltungskultur, auch der dokumentarischen, heute andere Stoffe gefragt; True Crime läuft besser als die Reisereportage. Übrigens sind solche Arbeiten auch in Malte Jaspersens Werk selten, in der Regel wendet er sich ernsteren Themen zu: jungen Menschen, die ihr Haus nicht mehr verlassen (Hikkokomori); getriebenen Arbeitern, die sich tot schuften (Saroshi); Japan nach der Fukushima-Katastrophe (Soutegai). Gerade aber weil das Stück etwas aus der Zeit gefallen ist, lohnt es sich, es heute wieder hervorzuholen. Wenn ein solches Feature gelingt, dass sich die Zeit nimmt, einfach nur mit teilnehmender Beobachtung die Schönheit des Frühlings zu erzählen, persönlich und ohne falsche Töne, und damit für eine Hörstunde anstecken kann – ist das nicht auch ein bisschen subversiv? Jedenfalls ist es unverwüstlich – so wie der japanische Frühling.

Ingo Kottkamp

Biografie

Malte Jaspersen, 1955 in Köln geboren. Jurastudium in Göttingen und Marburg. Nach dem 2. Juristischen Staatsexamen Arbeit als freier Theatermacher in Solo-, Duo- und Gruppenprojekten. Bis 1986 war er Mitglied der Gruppe „Drugie Studio Wroclawskie“ in Polen. 1989 Umzug nach Kyoto. Studium des No-Dramas und des No-Maskenschnitzens. Seitdem zahlreiche Features und Hörspiele für den deutschen Rundfunk, vornehmlich über japanische Themen. Daneben Audioinstallationen für Theater- und Kulturinstitutionen. 2014 wirkte er mit am Aufbau des Studienganges Medienkommunikation in Kyoto. Für „Souteigai − Japan und die Dreifachkatastrophe“ (DKultur 2012) erhielt er den Sonderpreis beim Prix Italia. Sein Hörbuch „Sushi – Vom Erlebnis, in Japan essen zu gehen“ wurde für den Deutschen Hörbuchpreis 2003 nominiert; seine Kyoto-Soundscape „Wassertropfen in der Schale“ und das Feature „Jishin – Gespaltene Erde, Beobachtungen im Erdbebenland Japan“ vertraten die ARD beim Prix Italia (Zweiter Platz).

 

Ausgewählte Radiostücke

„Wassertropfen in der Schale – Klänge der japanischen Stadt Kyoto“, RB 1994

„Galaxy Express 999 – japanische Mangas“, WDR 1998

„Slowly we bleed – Aspekte des Freitodes in Japan“, WDR 2003

„Jishin – Gespaltene Erde, Beobachtungen im Erdbebenland Japan“, rbb, Deutschlandradio Berlin, RB 2005

„Ich wollte mich in ein Nichts auflösen“, Deutschlandradio Kultur 2011

„Karoshi – Tod durch Überarbeitung in Japan“, SWR 2019

 

Stichwörter:

Japan; Frühling

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