Mirjam

von Werner Meyke

Regie: der Autor
Produktion: Radio Bremen 1975
Sendeversion: 54‘
Onlineversion: 58'13

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Eine Frau, ein Mikrofon. Sonst nichts (außer am Anfang einer Badewanne). Extrem 70er. Und gerade dadurch: extrem anschlussfähig ans Heute.

Das wäre doch mal eine tolle Subkategorie: Feature-Portraits, die weibliche Vornamen als Titel tragen. Viel gibt es da nicht, aber Erlesenes. „Jenny“ von Jens Jarisch porträtiert eine junge Frau, die sich aus dem Sumpf von Gewalt und Drogen befreit. „Sibylle“ (Robert Schoen) leidet an einer bipolaren Störung. „Angelika“ (Charly Kowalczyk) ist eine Geschichte von jahrelangem Kindesmissbrauch. Und nun „Mirjam“ von Werner Meyke. Mirjam ist … nun ja. Sie ist sich in vielen Dingen unsicher. Sie findet, dass der Vormärzschriftsteller Georg Weerth zu wenig beachtet wird. Sie hat einen großen Busen, auf den sie ständig angesprochen wird. Die Liebe hält sie für eine romantische Illusion. All das sagt sie über sich selbst in diesem knapp einstündigen O-Ton-Stück. Kann man das irgendwie auf den Punkt bringen? Gibt es ein Thema? Nicht wirklich. Und trotzdem wollen wir vier vom Rechercheteam (naja, fast alle vier ….) ihr bis zum Schluss zuhören. Sie klingt irgendwie frisch, ungekünstelt, sie redet ohne Auftrag und ohne Agenda. Sie kommt von einem Thema zum nächsten, man weiß nicht wie und warum, aber dass alles für sie von Belang ist, kann man spüren. Vielleicht bleiben wir aber auch einfach deswegen dran, weil das so ein ungewöhnliches Ereignis ist: dass jemand eine Stunde lang im Radio einfach so reden darf.

Übrigens sollte das Stück gar nicht Mirjam heißen, sondern „Mirjams Liebe“. „Aber Redakteure wollen ja auch immer was sagen oder einen Vorschlag machen“, so Werner Meyke im Jahr 2020. Also hieß es „Mirjam“ (so viel zur Stichhaltigkeit von Subkategorien.)

Mirjam erzählt. Von der Liebe, die es ihrer Ansicht nach nicht gibt und die den Leuten nur eingeredet wird. Von unterdrückten Gefühlen. Von den Schwierigkeiten, die sie in der Schule hatte. Darüber, wie sie Kafkas „Urteil“ gelesen hat. Von Gesellschaft und Autorität. Und am Schluss ganz lange von einer verunglückten Mexiko-Reise, bei der sie schlecht behandelt worden ist, vor allem von ihren zumeist männlichen Mitreisenden, aber auch von einer Frau, die diesen Männern gefallen wollte. Und immer ist Werner dabei, ihr Freund, der sie bestätigt, Anteil nimmt, alles, was sie sagt, mit einem positiven Echo verstärkt. Wie ein Interviewer, gar ein investigativ nachhakender, verhält er sich überhaupt nicht. Das Gespräch wirkt privat, manchmal fragt man sich als Hörer, was man eigentlich zu suchen hat in diesem Zwiegespräch. Und wo Werner Meyke sich nicht an Mirjam, sondern an die Zuhörer wendet, tut er das sehr knapp, sehr beiläufig, wenig ‚erzählermäßig‘; er gibt kein Panorama, stellt uns Mirjam nicht vor, sagt nicht, was ihn an ihr interessiert und warum er sie ins Radio bringt. An einer Stelle gibt er den Hinweis, dass der Werner, von dem eben im O-Ton die Rede war, ein anderer Werner ist als er selbst. Fast linkisch wirkt das. In unserer Recherche haben wir unzählige Erzähler gehört, die Ansprachen an die Hörerschaft hielten. Keiner war von diesem Modus weiter entfernt als Werner Meyke.

Irgendwie waren wir auch befremdet. Auszuge aus unserer Kommentardatei: „Auch das waren die 70er – labern, labern, labern.“ – „Bei dieser Mexikogeschichte hätte ich schon gerne gehabt, dass einer mal was fragt.“ Das Bild eines Kneipengesprächs stellte sich ein, bei der der Rekorder einfach mitläuft. Und vor allem die Badewanne hat uns nicht losgelassen. „Kennen wir irgend ein anderes Feature, bei dem die Protagonistin am Anfang nackt in der Badewanne liegt?“

Die unmittelbare Zugänglichkeit dieses Stückes ist auch eine Falle. Durch die Oberflächenreize und das Zeitkolorit der 70er Jahre, das sich auch in Vokabeln wie „Bumsverhältnis“ zeigt, muss man sich durchhören, eh man erkennt, dass Mirjam komponiert ist. Es ist nicht einfach draufgehalten worden. Das Material ist selektiert, gesiebt und angeordnet. Eigentlich sogar ziemlich deutlich, das Strukturelement sind kleine (und gegen Ende hin längere) Zellen, die mit Pausen voneinander abgetrennt sind. Dieses Verfahren war verbreitet im damaligen Hörspiel, Jürgen Beckers „Häuser“ etwa ist ähnlich gebaut. Jede Einheit steht für sich und zugleich bietet ihre Abfolge einen Zusammenhang – der aber weniger die Form einer Spannungskurve hat als die eines Kaleidoskops. Oder eben eines Gesprächs, das aber so nicht stattgefunden hat, sondern vom Autor mit dem O-Ton-Material nachgezeichnet wurde. Der Schnitt hat nicht wie sonst oft die Funktion, die Aussagen der Gesprächspartnerin griffig, geschmeidig, kompakt und vor allem kurz zu machen. Der Weg über Umwege, das Suchen nach Worten, das berühmte allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden – hier steht es im Mittelpunkt.

Und am Anfang steht ein Unbehagen: „Die Liebe gibt es nicht“ – damit gibt Mirjam den Grundton vor. Es wird einem etwas versprochen und es erfüllt sich nicht. Entfaltung wird unterdrückt. Am Arbeitsplatz muss man acht Stunden lang seine Gefühle verdrängen. Krankenschwestern können gar nicht mit Liebe arbeiten, wenn sie ihr Pensum schaffen wollen. Und Kinder reden nur noch von Mord und Totschlag: Ergebnis der Springer-Presse. Vor dem Hintergrund dieses Unbehagens klingt auch die Badewanne anders: tief abtauchen. Den Schmutz abwaschen. Und wenn ihr Kopf wieder auftaucht, sind „die Verhältnisse“, wie man damals sagte, schon wieder da, in Gestalt der Erwartungen, die an sie gestellt werden und denen sie nicht entsprechen kann oder will: „Jetzt seh ich doch sehr damenhaft aus, ja? Jetzt würd ich meiner Mutter gefallen.“

Fasziniert und auch ein bisschen amüsiert waren wir von Werner Meykes schluffigem Erzählstil im Jahr 1975. Und nun steht er im Jahr 2020 vor mir. Er trägt den Diskurs des O-Ton-Hörspiels aus den 70er Jahren in die Gegenwart und stellt sich selbstbewusst als Romanautor und Künstler vor. Vom Feature und vom Journalismus will er sich abgrenzen. Ein Porträt und ein Sittengemälde nennt er Mirjam, nennt die Bilder einer Ausstellung und Kafkas Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande als Referenzen für solche Sittengemälde, beschwört die Kraft, die echte, gesprochene Sprache gegenüber nachinszenierter Wirklichkeit im Hörspiel hat. Wir sprechen von anderen damaligen O-Ton-Hörspielen und heben hervor, dass Meyke immer ihm nahestehende Menschen vors Mikrofon geholt hat, seine Freundin Mirjam, seinen Schulfreund Justus oder seine Tante Gertrud: Individuen, nicht Vertreter sozialer Milieus. Meyke vergisst auch die nicht, die seine Arbeit ermöglicht haben: Günter Bommert, der als Hörspielredakteur bei Radio Bremen Menschen wie ihm eine Chance gegeben hat und ihn stundelang nachts bei Bremen seine Bänder schneiden ließ. Karl Fruchtmann, der Filmemacher, mit dem sich Meyke später zusammentat und vom Hörspiel zum Film abwanderte. Und Hanns Dieter Hüsch, der ihm seinen ersten Job beim RIAS per Empfehlungsschreiben verschafft hat. Der sprach von der Langzeitwirkung, die Werke haben müssten, die verschiedenen Schichten, die sich erst nach und nach entfalten.

Und: stellt die sich ein?

Unser Team kommt hier auf keinen gemeinsamen Nenner – vielleicht kein Wunder bei einem Stück, das so sehr auf offene Dramaturgie setzt. Manche finden es immer noch ungeformt, unfokussiert, eine halbe Sache, hätten am liebsten vorzeitig abgeschaltet. Andere sagen: dieses unfrisierte Reden, das ist der vorweggenommene Podcast-Ton. Mir scheint: es ist ein Zeit-Stück, das ausstrahlt. Einerseits bewahrt es den Geist der 70er Jahre: so hat man damals geredet und diese Freiheiten hat man sich im Radio erobert. Diese Form entsprach der Zeit und ein heutiges Remake müsste eine eigene, zum Heute passende Form finden. Andererseits erzählt es von Verletzungen, von Ausgrenzung und subtiler Gewalt, die heute sehr breit diskutiert werden und die man mit so einem Stück zurückverfolgen kann. Die losen Enden, die offenen Fragen, die informelle Art, mit der Mirjam sich mitteilt: ich empfinde sie als den Wert des Stückes. Mirjams Unsicherheit löst sich nicht auf, ihre Gedanken werden nicht eingeordnet. Wir Zuhörer sind auf ihre Stimme zurückgeworfen und können uns fragen: wissen wir es eigentlich besser?

Ingo Kottkamp

 

 

Gespräch mit Werner Meyke im Jahr 2020

Über Mirjam

Ich wollte ihrem Satz von der Liebe nachgehen und ich wollte sie porträtieren.

Ein Porträt löst sich ab vom Porträtierten.

Mirjam sollte eigentlich Mirjams Liebe heißen.

 

Über Radio Bremen in den 70er Jahren

Günter Bommert als Talentförderer bei Radio Bremen

Radio Bremen als Biotop fürs O-Ton-Hörspiel

 

Über O-Ton-Hörspiel und Feature

Abgrenzung vom Feature

Die Poesie der gesprochenen Sprache

Mentor Hanns Dieter Hüsch, Langzeitwirkung von Stücken und noch mal die Kraft des O-Tons

Biografie

Werner J. Meyke, in Deckbergen bei Rinteln an der Weser geboren. Schulzeit in der Nähe von Hamm/Westf. am Rande des Ruhrgebiets. Studium der Germanistik, Philosophie und Publizistik in Freiburg, Kiel und Berlin. Abschluss bei Harry Pross mit einer Arbeit über den Verleger Kurt Wolff. Zahlreiche Originaltonhörspiele von 1969–1983 für RIAS Berlin und Radio Bremen. Zahlreiche Fernsehspielarbeiten mit Karl Fruchtmann, darunter: „Der Boxer“ und „Zeugen“.

Ausgewählte Radiostücke

„Grüsse an Onkel Franz“ (RIAS 1970)
„Der Tod eines Sängers anhand von …“ Ein experimentelles Hörspiel“
(RIAS Jahr unbekannt)
„Mirjam“ (Radio Bremen 1975)
„Du lebst! Fertig! Du bist doch da!“ (Radio Bremen 1978)
„Justus, der Rahmenhändler“ (Radio Bremen 1980)
„Justus oder Wo will man wirklich hin“ (Radio Bremen 1981″
„Fortsetzung einer Flucht“ (Radio Bremen 1983)

 

 

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