Jetzt
von Norbert Zähringer, Uta Richter, Stella Luncke, Julia Miehe, Zabin Kaiser, Constanze Fröhlich und vielen anderen Studenten des Theaterwissenschaftlichen Seminars der Humboldt Universität BerlinJetzt – Berlin bei Nacht
Berlin bei Nacht.
Regie: Robert Matejka
Produktion: Deutschlandradio Berlin 1998
Ein Experiment: Was passiert da draußen? Jetzt, in diesem Moment? Sechs Studenten schwärmen gleichzeitig aus und simulieren ein „live“-Feature.
„Um eins“ sagt der Fotograf, „wimmelt der Broadway nur so von Ganoven und jungen Kerlen, die in weißen Dinnerjackets aus dem Astor Hotel kommen – Jungs, die in Papas Wagen zu irgendwelchen Bällen fahren. Und dann sind da noch die Putzfrauen, die nach hause gehen, die erkennt man ihren Kopftüchern. “
„New York: Stadt im Verborgenen“ heißt eine 24 Buchseiten lange Reportage von Gay Talese, die 1961 erstmalig im Esquire erschien, einem ebenso beliebten wie schillernden Männer- und Lifestylemagazin aus New York. Das Blatt war seinerzeit die Wundertüte unter den amerikanischen Printmedien. Zum Beispiel fand der Leser zehn Jahre vor Taleses NY-Reportage das in der Heftmitte eingeklappte Pinup einer gewissen Marilyn Monroe. Und wenige Jahre später dann die ersten, stilbildenden und bis heute legendären Reportagen von glamourösen Autoren wie Tom Wolfe, Norman Mailer und Truman Capote. Mit ihrem literarischen Zugriff auf die Welt haben sie ein neues journalistisches Format auf das Print-tableau gehoben. Ein Sub-Genre der journalistischen Reportage entstand, das mit vielen Namen zu fassen versucht wurde: New Journalism, Art Journalism, Essay Fiction, Factual Fiction bis hin zu „Nonfiction Novel’, einem Begriff, den Capote 1965 für seinen gefeierten Recherche-Roman „In Cold Blood“ geprägt hatte.
„Zeitschriften konnten plötzlich, wenn sie mutig und geneigt waren, tun, worauf sie verdammt noch mal Lust hatten, solange die Leute sie kauften und die Anzeigenkunden das wussten“, fasst der Journalismus-Dozent Michael Shapiro den „heißesten Scheiß“ der Stunde zusammen.
„Um zwei wird der eine oder andere Säufer unleidig, da gehen dann in den Bars schon mal ein paar Schlägereien los.“
Sexy waren die oftmals von einer anspruchsvollen Foto-Strecke flankierten Reportagen aber nicht allein wegen der Glamour verheißenden Autoren-Namen. Der Schreibstil selbst war neu: griffig und unterhaltsam, reich an Witz und durchlässig für alle Neologismen der aufkommenden, kreativen Pop- und Subkulturen im Amerika der 60er Jahre. Und dort fand dieser Reportagestil auch oft seinen Erzählstoff und seine Protagonisten: Talese etwa schrieb mit Vorliebe groß angelegte Portraits über die kleinen Gewinner und großen Verlierer des Showbiz: Boxer und Baseball-Stars und spannende, weil teilweise zwielichtige Showfiguren wie Dean Martin oder Frank Sinatra. Oder er ernennt seine Heimatstadt kurzerhand zur Hauptfigur und versucht sich an einem Nachtbild:
„Um drei sind die Shows in den Nachtclubs zu Ende und die meisten Touristen und Spesenritter wieder in ihren Hotels, die Fifth Avenue wie leer gefegt. Bis auf ein paar Menschen, die unter Schlaflosigkeit leiden und einigen eleganten Frauen, die Tag und Nacht in den Schaufenstern stehen, ein kaltes, makelloses Lächeln auf den Lippen – mit Mündern aus Plastik und Augen aus Glas.“
Ob er diese Reportage gelesen hatte, ist nicht überliefert, aber fast 40 Jahre später und ganz woanders, nämlich in Berlin, steht Robert Matejka, der damalige Feature-Redakteur des Deutschlandradio Berlin, vor den Studenten des Theaterwissenschaftlichen Seminars der Humboldt-Universität Berlin. Dort leitet er im Jahre 1998 ein Proseminar: „Einführung in Theorie und Praxis von Hörspiel und Feature“.
Über den theoretischen Teil sind keine Notizen vorhanden, der praktische Teil allerdings liegt gut konserviert im Schallarchiv und klingt heute noch so fresh, dass er keinen Vergleich mit Taleses üppigem Nacht-tableau zu scheuen braucht.
Das erklärte Ziel des praktischen Teils war „die Simulation einer Live-Sendung: Was machen die anderen, während ich Radio höre? Was passiert da draußen? Jetzt, in diesem Moment?“ Und dieser Moment startet zur Sendezeit, um 0.05 Uhr in der Nacht.
Sechs kleine Aufnahmeteams, mit gutem Tonequipment ausgestattet, brechen dafür spät abends auf und halten ihr Mikrofon – mehr oder weniger gleichzeitig – in die Berliner Nacht: sie sammeln das Grundmaterial für ein Experiment: ein „Schwarm-Feature“, wie es der Autor und Kurator Tido von Oppeln heute rückblickend nennt. Er gehörte damals wie auch Stella Luncke zu den Studenten, die diese erste praktische Feature-Etude unter der Leitung von Robert Matejka durchliefen.
Erhellend ist die Gegenüberstellung dieser beiden Arbeiten sicher, weil sie ein ähnliches Projekt betreiben: die Beschreibung der Stadt bei Nacht. Aber noch interessanter vielleicht ist die Stil-Verwandtschaft dieser beiden dokumentarischen Langformen, grade weil sie so unterschiedliche Erzählmittel benutzen.
Kein Printformat ist dem Radiofeature in der Grundhaltung zu seinem Sujet, in Stilmerkmalen so herzensverwandt wie die originären Blüten des new journalism der amerikanischen 60er Jahre. Was auch daran liegen mag, dass beide Genres ungefähr zur gleichen Zeit, das eine in den USA, das andere in Europa entwickelt wurden.
Versucht man den Schreibstil dieser neuen Reportagen zu beschreiben, dann landet man – interessanterweise – schnell bei den bekannten Begrifflichkeiten, die seit Jahrzehnten auch in jedem Radio-Feature-Seminar oder Workshop irgendwann fallen.
Bevor Peter Leonhard Braun das stereophone Feature als neue genuine Radioform etablierte, schrieb er zahlreiche literarische Radio-Feature, die stilistisch durchaus Verwandtschaften zu den amerikanischen Reportagen der Zeit aufweisen. Aber auch Brauns berühmtes Boxer/Catcher-Feature „Catch as catch can“ von 1968: Blendet man – was schwer fällt – die einehmende akustische Präsenz, die grandiosen Atmos, die den Hörer mitten in die entfesselte Zuschauermenge setzen, aus, bleibt einzig eine Erzählerstimme, die uns durch die Nacht am Ring begleitet. Ein Erzählstil also, den wir in unseren Hörprotokollen als „Feuilleton in mono“ beschrieben haben und sich stilistisch mit Gay Taleses Sport-Reportagen gut vergleichen lässt – und im übrigen nach dem fulminanten Sound-Anfang den größten Teil dieses Features alleine bestreitet.
Die literarische Reportage des new journalism wie auch das Feature:
-umkreisen ein gründlich recherchiertes und eingehend beobachtetes Sujet, die „Erzählung“ davon ist oftmals von einer höchst subjektiven Autorenstimme geprägt;
– sind den dokumentierten Fakten verpflichtet, verarbeiten sie aber mit literarischen Stilmitteln;
– bevorzugen eine eher szenische, als berichtende Erzählform;
– zeigen ein Gespür für Typen und deren Sprechweise;
– pflegen einen atmosphärischen Detailreichtum;
– haben den Mut zum abrupten Perspektivwechsel, der einhergehen kann mit Tempo- und Sprachstil-Variationen: subtile Beobachtungen und sachliche Analyse kontrastieren kurze, fraktale Eindrücke;
– hängen weniger der linearen Erzählweise an als einer parataktischen, assoziativen, im Feature vielleicht collagierenden Bauweise.
Das „Jetzt“-Feature der Theater-Studenten führt den Hörer streifzugartig durch die Berliner Nacht der späten 90er Jahre: Wir springen vom Bahnhof Zoo in ein Schlaflabor, hören uns kurz in einen Tanzclub, in eine Polizeiwache und in eine Druckerei ein, stehen beim Fastfood mit an und hören alle fünf Minuten die heute schon prähistorisch anmutende Stimme der telefonischen Zeitansage der Telekom: „Beim nächsten Ton ist es…“ mit dem lustigen und sehr einfach zu erzielenden Effekt, dass der Radio-Hörer dabei gleichzeitig auf die Armbanduhr schaut und sagen kann: „Stimmt!“ – fertig ist die Live-Simulation! Denn das Feature lief 1998 bei Deutschlandradio Berlin um 0.05h auf dem Feature-Sendeplatz.
Sein Alter zeigt das Stück nicht in der Machart, die klingt auch heute noch originell und akustisch interessant. Es arbeitet mit entschiedenen Schnitten und unvermittelten Szenenwechseln und macht sich um die Orientierung der Hörerschaft keine Sorgen. Darin mutet es sehr „heutig“ an. Aber es bewegt sich in einer noch weitestgehend analogen Welt, in der man zu jeder Tages- und Nachtzeit die Telefonauskunft der Deutschen Bahn anrufen konnte. In einem leicht gereizten Unterton („Ja, Ankommen oder Abfahren, wat woll’nse denn jetzte?“) liest uns die Nachtschicht-Angestellte vor, welche Züge knapp zehn Jahre nach der Wende zwischen Null und Eins in Berlin ein- oder ausfahren: es sind nur wenige – und auch hier zeigt das Stück seine Entstehungszeit. Berlin ist noch keine brodelnde Metropole wie Taleses New York der 60er Jahre, noch merkt man ihr das jahrzehntelange Inseldasein an. Es ist noch die Stadt weit im Osten, die erst langsam ihren (Schienen)-Anschluss an den Rest der Welt findet. Mitunter seltsam leer wirkt die Stadt in diesen Aufnahmen, was die zufälligen Protagonisten dieses Stückes umso greller in den Vordergrund rückt. Der Bahnhof klingt wie eine leere Bühne, wir hören die Gleisdurchsagen der Deutschen Bahn verhallen und nähern uns „Enten-Mike“, einem heillos verschnupften Irokesen-Punk, der mit niederrheinischem Singsang aus seinem unbehausten Leben und von seinem Zwillingsbruder erzählt, der drei Stationen weiter am Zoo schnorrt. Enten-Mike hat seinen Trick raus, wie er die Passanten auf sich aufmerksam macht und ihnen, wenn er Glück hat, etwas Kleingeld oder eine Zigarette entlockt: denn wenn er will, klingt „Enten Mike“ aus dem Stand wie Donald Duck, „dat macht mir keiner nach“. Mit solchen kurzen Nacht-Begegnungen, mit sich scheinbar von selbst entfaltenden Schicksals-Miniaturen arbeitet das Stück. Nichts wirkt hier ans Licht gezerrt oder mühevoll präsentiert. Das Mikrofon wirkt hier eher wie ein geduldiges Spinnennetz, es fängt ein, was der Nachtwind ihm vor die Membran weht. Scheinbar.
Gay Talese hingegen hat über Jahre eine chinesische Fußballerin verfolgt, die Geschichte schrieb, als sie den entscheidenden Final-Elfmeter gegen die USA verschoss. Für Talese wurde diese Frau zu einer Obsession: ganze Kartons an Recherchematerial hatte er gesammelt und Exposés geschrieben und Monate in China verbracht. Je mehr er drängte, umso unwahrscheinlicher wurde ein genehmigtes Interview. Das Treffen mit ihr kam nie zustande, die Reportage wurde nie zu Ende geschrieben und keine Zeile davon veröffentlicht.
It’s all about time, schreibt und resumiert Gay Talese in seinen Arbeits-Memoiren. Aber wie lange muss der Radiomacher nachts durch die Straßen ziehen und im U-Bahnhof herumlungern, bis seinem Mikro zwei so ausdrucksstarke Typen ins Netz gehen, wie wir sie bei Minute 25 zu hören bekommen:
Zwei Bodenreiniger beginnen ihren Nachtdienst im U-Bahnhof, man hört die kreisenden Bürsten ihrer Maschinen im gekachelten Gewölbe. Wer meint, hier beispielhaft eine „niedere Tätigkeit“ vorgeführt zu bekommen, der wird von den selbstbewussten Nacht-Arbeitern eines Besseren belehrt. Dass ihnen diese Maschinenarbeit „ein bißchen als Privileg verkauft“ wurde, erzählen sie freimütig und auch dass sie sich in ihrer Montur inmitten der streunenden Nachtgestalten durchaus wohl fühlen, bringen sie auf den Punkt: „Die wundern sich über uns, wir über sie!“ Parallelwelten um 0.25h.
Auch Gay Talese setzt in seinem Text auf Quellen-Diversität, durchbricht seine detaillierten Nacht-Beobachtungen mit Originalton-Aussagen von Nachtschwärmern und Türstehern. Und gut verstreut über den gesamten Text, wie kleine knallige Bonbons wartet Talese mit ungewöhnlichen Statistiken auf. Diese sorgen immer wieder für einen Perspektivwechsel und schauen auf NYC wie von weit oben herab, eine aus Zahlen gemalte veduta: die New Yorker ziehen sich täglich 40 Km Zahnseide durch die Zähne, täglich sterben 250 Menschen und 460 werden geboren…. 150 000 Brillenträger schauen auf diese Stadt und 200 Maronenverkäufer warten auf Kundschaft. Auch die 300 000 Tauben und 600 Statuen und Denkmäler nennt er sinnigerweise in einem Atemzug. – Er malt ein opulentes Panoptikum, scheinbar einzig begrenzt durch die Vorstellungskraft des Lesers. Dem sich eine von unüberschaubaren Gleichzeitigkeiten durchzogene „Symphonie der Großstadt“, der Weltstadt schlechthin, auftut.
Ein Stückweit inszeniert auch das „Jetzt!“-Feature eine gewisse Draufsicht, setzt den Hörer in eine Beobachter- – und weil die Aufnahmen fast ausschließlich im öffentlichen Raum geschehen – auch in eine Art Überwachungs-Position: das Feature als Zentrale, in der alle Kanäle zusammenlaufen, mühelos und unbeteiligt schwenkt der Hörer alle drei Minuten von einer Szenerie zur nächsten und wieder zurück. Streifzüge. Zufällige Fundstücke. Gleichbleibende Distanzen.
0.11 Uhr an eine Tankstelle: Jugendliche protzen vor dem Mikrofon mit ihrem Drogenkonsum, wildes Gegockel bis hin zu Androhung von Gewalt, „Ich hab hier kein Problem, dir eins aufs Maul zu hauen“. – It’s all about time – Wie lange also bleibt man als Feature-Macher dort stehen? Wie lange tut man sich das verspulte Gebaren an? Kommt die Begegnung vielleicht nochmal in ein anderes, vielleicht sogar völlig überraschendes Fahrwasser, wenn man hartnäckig und gelassen bleibt? Ja, in dieser Szene deutet es sich an, der eine oder andere aus dem Rudel lenkt ein und ist scheinbar zum Gespräch bereit, wird dann aber doch überschrieen… Schön zu vergleichen ist diese alkoholisierte Gruppendynamik mit jener einer Gruppe feiernder Frauen. Sie klingen so ausgelassen, als seien sie grade erst aus der Kneipe auf die Straße gestolpert, und ab Min 16 dann schwanken sie kichernd und schlüpfrige Zoten reißend durch das Stück..
„Um vier, wenn die Bars dichtmachen, kann man die harten Trinker sehen – und die Zuhäter und Prostituierten, die den Besoffenen das Geld aus der Tasche zu ziehen versuchen.“
And it’s all about Zufall. Denn in jeder anderen Nacht, an jedem anderswo in Berlin gelegenen Aufnahme-Spot wäre anderes, vielleicht in seinem Grundton sogar gänzlich anderes Material und demzufolge eine gänzlich andere Sendung entstanden. Das Feature – und das gilt vielleicht auch für die literarische Reportage, muss sich von diesem Umstand den Spaß nicht verderben lassen. Zufall ist hier Prinzip. Und – paradox oder nicht – je dezidierter und genauer das dokumentarische Genre einzelne Typen beschreibt, um so mehr prototypische Merkmale kommen zum Vorschein. Die Frage nach der Objektivität, nach Repräsentanz stellt weder das Feature noch ihre Artverwandte aus dem Blätterwald.
Beide dürfen auf den Zufall vertrauen und wenn das Mikro zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ist, dann beschenkt er den Macher und den späteren Hörer mit solchen Sternstunden- oder Minuten wie in „Jetzt!“ bei Sendeminute 35: eine echte Prototypen-Show:
„Der Ausländer“ und „der Skinhead“ verfangen sich, betrunken sind sie beide, in eine absurd komische Diskussion über die vergangenen Bundeskanzler der BRD. Nach zwei Minuten zeigt sich, dass der radebrechende Migrant weit besser Bescheid weiß und – legendärer Moment in der Geschichte des szenischen Features – dem bedröppelten Glatzen-Typ, sein Bier in die Hand drückt und ihn mit den Worten stehen lässt: „Kannste mal halten, ich muss mal pinkeln? “ Wieviele Tage müsste man Radio hören, um einmal Tränen zu lachen..? Hier also genügen 38 Minuten.
„The fine art of hanging around“ nannte Talese seinen beobachtenden Recherchestil. Hier haben die Studenten ihn kongenial kopiert: beim Späti abhängen, ohne Eile und mit offenem Mikrofon, offen für den Moment, den Zufall, der Konstellationen schafft..
„Aber um fünf ist es dann ziemlich ruhig. Da ist New York nicht wiederzuerkennen.“
Oder eben keine Konstellationen schafft: An Frank Sinatra hat sich Talese die Zähne ausgebissen, ihn über Jahre verfolgt und obwohl dutzendfach angebahnt, kam es letztlich nie zu einem realen Treffen: Talese wurde ein ums andere Mal mit wechselnden Vertrauensmännern, Sprechern und Stellvertretern vertröstet. Dieses Katz- und Mausspiel macht der Schreiber ohne Mikrofon zum Motor seiner Reportage: er beschreibt das Showbusiness, indem er einen Entertainer als unnahbaren Superstar portraitiert. Sinatra ist Alles und Niemand, eine leere Mitte, umgeben von einer halbseidenen Entourage aus Familie und Mafia. Aus diesem Verwirrspiel schrieb Talese „Frank Sinatra ist erkältet“, 1966, ebenfalls im Esquire erschienen. Zum 70-jährigen Bestehen der Monatszeitschrift 2003 wurde sie als „die beste Esquire-Geschichte aller Zeiten“ ausgezeichnet. –
it’s all about timelessness.
Historisch und zeitlos zugleich ist auch die über 20 Jahre alte Momentaufnahme im „Jetzt!“-Feature. – Das Uni-Experiment „Gleichzeitigkeit“ bzw „Live-Simulation“ hat seine ganz eigenen akustischen Mittel gefunden, die dem schreibenden Journalisten gar nicht erst zur Verfügung stehen. Erst durch den kollektiven Ansatz in der Arbeit der Student*innen, die mit mehreren Rekorder-Einheiten ausgeschwärmt sind, konnte eine wirklich multiperspektivische Moment-Aufnahme entstehen, in der jedes Partikel seinen eigenen Sound, seine eigene Geräusch-und Atmowelt mitbringt.
Anders als die literarische Reportage braucht das Feature nicht zwangsläufig einen moderierenden Erzähler, der fortlaufend wechselnde Orte und Konstellationen beschreibt. Die Szenen erzählen sich den Ohren selbst, die bleibende Rest-Unschärfe ist exakt jener Freiraum, der dann der Phantasie des Hörers zugute kommt. Wo der Print-Autor eine ausgeklügelte Grammatik bemühen und sich in seiner Lenkung des Lesers fortlaufend sichtbar halten muss, sofern er die Illusion der Gleichzeitigkeit aufrechterhalten will, hat es der Featuremacher leichter: seine Autorenschaft – in diesem Fall eine kollektive – liegt wirksam aber versteckt in der mutigen, weil offenen Anordnung des Materials. Durch die rhythmisch wiederkehrenden Leitmotive, die sich hier durch das Stück ziehen und es zusammenhalten, konnten die studentischen Monteure – gemeinsam mit ihrem regieerfahrenen Mentor Robert Matejka! – das ausgewählte Material im Studio dann um so freier und assoziativer, eher nach musikalischen, als nach logischen Gesichtspunkten arrangieren. Diese „Freiheit“ tut dem Stück gut, es lässt den Hörer an der langen Leine und füttert ihn doch mit sehr konkreten, weil szenischen Bildern, die über den Tag hinaus nachhallen.
Its all about time… In der Literatur, im Film, im Journalismus, alles „neu“: Nouveau Roman, New Hollywood, Nouvelle Vague, New Journalism. Die 60er Jahre werden zum Aufbruch verheißenden Jahrzehnt schlechthin.
Spätestens in den 80er Jahren geriet das goldene Zeitalter der langen Form erst in wirtschaftliche Erklärungsnot und dann in die Fänge der Promi-Logik: Um die ausufernden Kosten dieser recherche-intensiven Arbeiten einzufangen, wurden mittlerweile fast nur noch etablierte Bestseller-Autoren engagiert, die zugleich schon mit einem Buchvertrag ausgestattet und damit ko-finanziert waren. Über diesen Trend verliert Talese so manche Träne: „Die Texte beschäftigen sich mehr mit ihnen selbst als mit anderen Menschen.“ Eine Kritik, mit der auch schon manches Radio-Stück in die ewige Wüste des Schallarchivs geschickt und nie wieder aufgelegt wurde.
In den 80er und 90er Jahren fand diese Printgattung auch in Westdeutschland ihre Heimat in so schillernden Zeitgeist-Magazinen wie TEMPO und WIENER und allemal in den intelligenten Musik-Zeitschriften wie SPEX und SOUND: unwiederbringliche, Aufbruch verheißende Zeit. Heute leisten sich nur noch ganz wenige Wochen-und überregionale Zeitungen ihre lange, exklusive Edel-Strecke, deren online-Fassung sie inzwischen fast regelmäßig hinter einer paywall verbergen. Womit sie vielleicht nicht die Kosten decken, aber doch dem ursprünglichen Sinn des Wortes „exklusiv“ Rechnung tragen.
Lässt man die big player mal außen vor, ist das Internet trotz des steigenden wirtschaftlichen Drucks natürlich immer noch die Wundertüte unserer Zeit, die Selbstverwirklichungsmaschine, der „Ort“ schlechthin, wo Künstler und Autoren ohne (oder mit ganz neuartigem) Businessplan und in Eigenregie ihre Herzblut-Projekte landen. Dort wird hoffentlich auch die lange dokumentarische Form in vielfältigster Art weiterleben. Genauso wie das Radio-Feature, das sich zunehmend im Internet einrichtet, es nicht nur als Sendeplattform nutzt, sondern auch als Ort des lebendigen Diskurses, als Archiv und Gedächtnis.
Giuseppe Maio