Im Zustand der leeren Depression

von Rosvita Krausz

Im Zustand der leeren Depression
Geschichte einer Vergewaltigung
Regie: Carola Preuß
Mit: Christa Rossenbach und Hans-Peter Bögel
Produktion: SDR 1980
Länge: 54'30 (Sendefassung)
Länge: 57’25 (Onlinefassung)

Eine Vergewaltigung. Täter und Opfer haben sich zuvor nicht gekannt. Auch über 40 Jahre nach der Produktion beeindruckt der genaue Blick dieses Features.

Das Feature erzählt die Geschichte einer Vergewaltigung aus zwei Perspektiven: der des Opfers und der des Täters. Die 17jährige Schülerin Ingelore Steiner – ihr Name ist ein Deckname – erzählt, was ihr widerfahren ist. Wie sie ihren Vergewaltiger zum ersten Mal in einem Café traf, wo er am Nebentisch das große Wort führte und seine Rede mit Fremdwörtern spickte. Wie sie ihn ein zweites Mal in einer Frankfurter Diskothek sah, wo sie zusammen mit ihrer Schwester und deren Freund war. Wie der Mann sich wieder auffällig laut verhielt, wie sie mit ihm ins Gespräch kam und dachte, „na der hat halt Komplexe und versucht sich in ein gutes Licht zu rücken“. Wie sie sein Angebot, sie mit dem Auto nach Hause zu bringen, annahm, weil es daheim immer Ärger gab, wenn sie zu spät kam. Wie sie auf dem Weg zum Auto durch einen dunklen Hausdurchgang gingen und das dann genau der Ort war, wo der Mann sie plötzlich in den Würgegriff nahm.

Die junge Frau erzählt souverän und detailliert. Sie schildert den harmlosen Beginn des Abends und die unterhaltsame Seite des Unbekannten, der scheinbar nichts von ihr wollte. Sie beschreibt ihre Arglosigkeit bis zu dem Augenblick, wo es zu spät war.

Valentin Karo – auch das ist ein Deckname – ist wesentlich älter, etwa Anfang dreißig. Er schildert den Abend ebenfalls wortgewandt, aber im Stil vollkommen anders. Er klingt wie einer, der gelernt hat, sich über die Schulter zu schauen, Distanz zur eigenen Handlung einzunehmen. Er verfügt über psychologische Interpretationsmuster und zeigt Routine bei der Einordnung seines Verhaltens – es ist ja auch nicht seine erste Vergewaltigung; außerdem befindet er sich in therapeutischer Behandlung. Von sich selbst spricht er als vom „Wolf im Schafspelz“, der bei seiner Beute einen guten Eindruck zu machen versuchte. “Das war son Mädchen, das ich ein Mal im Café gesehn hatte, schlank, blond, hat en ausgeprägten Busen gehabt und vor allen Dingen sehr jung, und das sind also die Momente, die offenbar bei mir ne wesentliche Rolle spielen. Ich versuchte also mit allen Mitteln auf mich aufmerksam zu machen.”

Die dramaturgische Spannung dieses Stücks rührt vor allem daher, dass Opfer und Täter vom selben Abend und den selben Orten erzählen. Auch Valentin Karo beschreibt den Weg über den Parkplatz: wie er das Mädchen in Sicherheit zu wiegen versuchte, wie er im Dunkeln einem Mann zuwinkte, den es gar nicht gab, wie er Hallo sagte und so tat, als würde er mit dem Hausmeister sprechen, der ihnen eine Abkürzung zu dem in der Nähe geparkten Auto erlauben würde. Und wie er dann im dunklen Treppenhaus den Schafspelz ablegte, die Frau in den Würgegriff nahm und zwang, sich auszuziehen.

Irgendwann fiel etwas auf den Boden, vielleicht der Ausweis. Der Schülerin gelang es sich loszureißen, sie fand den Ausgang und rannte aus dem Haus auf die Straße. Valentin Karo, der hinter seinem Opfer hergelaufen war, wurde von ein paar jungen Männern festgehalten bis die Polizei kam.

Jetzt sind wir bei Minute 17’. Das erste Drittel ist vorbei. Bis zu diesem Punkt waren wir alle Vier gleichermaßen beeindruckt.

Aus unserer Diskussion:

„Das Stück hat einen enormen Sog, der Wechsel zwischen den Perspektiven, die Übereinstimmungen und Abweichungen in den Wahrnehmungen, die nie voyeuristisch ausgeschlachteten Details des Hergangs. Die Kunst in 55 Minuten zwei Lebenswege zu beschreiben, die sich an einem Abend kreuzen, so konsistent und dicht ausgeführt. Wieder ein Stück aus der Sparte: formal und akustisch schlicht, aber dramaturgisch perfekt erzählt.“

Das Stück steht in der Tradition der Feature-Macher, die seit dem Ende der 1960er Jahre aus politischen und ästhetischen Gründen forderten, im Rundfunk nicht nur die Machthaber, die Gebildeten, die Wichtigen, die Offiziellen zu Wort kommen zu lassen, sondern auch „den anderen eine Stimme zu geben“. Genau das tut Rosvita Krausz.

Nach Minute 17’ folgt die Analyse: “Der Angestellte Valentin Karo kam nicht als Triebtäter auf die Welt. Sein Mangel an Reife ist keine selbstgewählte Bosheit.” Die unglückliche Kindheit und Jugend des Mannes wird rekonstruiert und abwechselnd von Valentin Karo und der Autorin (bzw. der Sprecherin) erzählt: er war ein ungewolltes Kind, hin und herstoßen, aufgewachsen ohne Zuneigung, in einer Atmosphäre von Prüderie und Bigotterie, regelmäßig verprügelt vom Stiefvater, ohne Trost und ohne Rat; selbst der Pfarrer, an den er sich wendete, interessierte sich mehr für seine sexuellen Praktiken als für einen Ausweg aus der Not.

Aus unserer Diskussion:

„Das Zusammenfassen, Einordnen, Kontextualisieren und auch Bewerten nimmt breiten Raum ein und klingt – mit dieser Diktion und dieser Sprecherin – auch manchmal etwas offiziös. Würde man heute anders machen. Ich habe es aber nicht als Mangel empfunden, denn mir scheint, ihre Analysen aus Gutachten und Interviews sind richtig. Und: sie fügen sich in die Dramaturgie ein, es bleibt TROTZ der Erklärungen spannend – oder eben, weil die Erklärungen gut sitzen. Man hört auch den Interviews an, dass sie mit beiden Protagonisten Kontakt hatte, dass sie ihnen wirklich zugehört hat.“

Im Prozess, der ein Jahr nach der Tat stattfand, spielt das Gutachten des damals schon renommierten Frankfurter Psychiaters und Sexualwissenschaftlers Volkmar Sigusch eine große Rolle. Aber über den Zugang zu den Protagonisten erfährt man nichts. Vier Jahre nach dem Prozess ist das Feature gesendet worden. Wie stellte die Autorin den Kontakt her, wie gestalteten sich die Gespräche? Fragen, die man heute sicher stellen würde.

Aus unserer Diskussion:

„Auf ärgerliche Weise irritierend und unklar dabei ist die Rolle der Autorin, die immer ausgewogen in beide Richtungen einen klaren Auftrag spürt, nämlich beide Protagonisten zu ‚Opfern’ ihrer Lebensumstände zu erklären. Sätze wie ‚Seine Tat war ein Hilfeschrei’ sind schon sehr anmaßend.“

Gegenstimme:

„Andererseits drückt sich darin für mich eine echte Suche aus, ein echtes Interesse zu verstehen, wieso es dazu gekommen ist, was hinter so einem Übergriff steckt. Und ich habe schon den Eindruck, dass Rosvita Krausz in diesem Punkt extrem weit kommt. Dank ihrer guten Balance zwischen Empathie und Distanz. Und natürlich auch dank ihrer guten Protagonisten. Meines Erachtens rechtfertigt sie den Täter auch nicht, sondern lässt seine Rechtfertigungen im Raum stehen und den Zuhörer bewerten, was er/sie davon hält. Fair enough, finde ich.“

In unserer Gruppe gingen die Meinungen auseinander zum einen bei der Frage, wieweit die interpretierenden Kommentare der Autorin helfen oder nerven, zum andern angesichts der ungleichen Gewichtung der Protagonisten:

„Bei 38’ darf das Opfer mal wieder was sagen.“

Die Folgen der Vergewaltigung für Ingelore Steiner werden zwar erzählt – das Misstrauen der Gesellschaft, die Faustschläge durch den Vater, die Bagatellisierung vor Gericht, der Voyeurismus der Nachbarn – aber sie nehmen nicht den gleichen Raum ein wie der Werdegang des Täters. Dennoch, und das zählte am Ende mehr, waren wir uns darin einig: das Feature ist spannend, die Dramaturgie gut, der Autorin gelingt die Rekonstruktion der Vorgeschichte einer Gewalttat, ohne im Gefühl der Auswegslosigkeit steckenzubleiben.

Die Gerichtsverhandlung steht am Ende des Stückes:

“Valentin Karo hatte nach einer 35-jährigen Kette von Verhängnissen einmal Glück gehabt: er war an einen engagierte Anwalt geraten, der mehr für ihn tat als alle anderen zuvor. (…) In einer 12 Tage währenden Verhandlung kämpfte sein Anwalt für die einzige Chance, die es noch gab, die Chance der Psychotherapie, die aber nur unter freien Lebensbedingungen möglich und sinnvoll ist. Und er hatte Erfolg. Die Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. Die Bewährung aber war an die Bedingung einer psychotherapeutischen Behandlung gebunden. Ein mutiges Urteil.”

Rosvita Krausz verfolgte schon in den 1970ern die These, dass Vergewaltigung eine Form gesellschaftlich akzeptierter Gewalt gegen Frauen ist. Sie wollte der Verharmlosung des Themas entgegentreten und die öffentliche Wahrnehmung verändern. Dabei hatte sie offensichtlich große Fähigkeiten, bei ihren Interviews oder besser Gesprächen, ein vertrauensvolles Klima entstehen zu lassen, das es den Betroffenen erlaubte, über die traumatischen Erfahrungen zu sprechen.

Eine andere Qualität ihrer journalistischen Arbeit war die Fähigkeit zur langfristigen Recherche: „Sieben Jahre lang habe ich mich als Journalistin mit dem Thema Multiple Persönlichkeitsstörung beschäftigt.“ Entstanden sind in dieser Zeit zahlreiche Sendungen fürs Radio und fürs Fernsehen. Die Sendung „Auf der Suche nach dem verlorenen Ich“ wurde mit dem Elisabeth Selbert Preis ausgezeichnet.

Marianne Weil

Biografie:

Rosvita Krausz, geboren 1945 in Potsdam, studierte Germanistik, danach besuchte sie die NDR Rundfunkschule bei Axel Eggebrecht. Ihre Themen waren Porträts von Außenseitern, Grenzgängern, Traumatisierten. Sie lebte in Hamburg, wo sie im Jahr 2021 starb.

Ausgewählte Stücke:

„Fünf Tage im Oktober. Psychogramm einer Geiselnahme“, DLF 1978

„Fünf Tage im Oktober oder Die Kunst zu überleben – Die zwei Leben der Landshut-Stewardess Gabi von Lutzau“, DLF 2012

„Zirkus – Die Schaulust, das Spiel mit dem Tod und die Wunder der Geschicklichkeit“, SFB/SDR/RB 1987

„Die Punker und die Oma. Solche, wie ihr seid, da hab’ ich keine Angst vor“, SFB 1988

„Auf der Suche nach dem verlorenen Ich – Multiple Persönlichkeiten und ihre Therapeuten“, HR 1999

„Das schwarze Mosaik. Erinnerungen an rituellen Mißbrauch“, NDR/DLF 1999

„Leb wohl, mein Herzensschöner, Nachruf auf eine schwule Liebe“, SFB-ORB/ORF 2001

„Gott segne und behüte Dich – Mädchenjahre in einem Pfarrhaus“, DLF 2011

„Das vergiftete Glück – Depressionen nach der Geburt“, DLF 2021

 

Themen: Vergewaltigung, Gesellschaft, Therapie statt Strafe

 

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