Gar nicht so einfach, sich am Leben vorbeizuschleifen

von Andreas Schroth und Gabriele Thaler

Regie: Götz Naleppa
Sprecher: Erich Graf
Ton: Gerhard Dönitz und Manfred Pickert
Produktion: RIAS Berlin 1981
Sendefassung: 54'13
Onlinefassung: 60'54

O-Ton aus dem Jahr 1981: Erich Graf, 85 Jahre alt, ist der letzte Scherenschleifer Berlins. Pfeifend zieht er durch die Hinterhöfe und bietet seine Dienste an. Seine Erinnerungen reichen bis in die Kaiserzeit.

„Ich habe ein RIAS-Stück von 1981 gefunden, das mich fasziniert, vielleicht kennt ihr es: „Gar nicht so einfach, sich am Leben vorbeizuschleifen“, von Andreas Schroth und Gabriele Thaler. Regie: Götz Naleppa. Es ist das Portrait des vermutlich letzten Berliner Scherenschleifers. Ein namenloser Mann, der 1981 schon 85 Jahre alt ist und nach 30 Jahren Wanderschaft immer noch täglich mit seinem Schleifbock durch die Straßen von Westberlin zieht und bimmelnd seine Dienste anbietet und im Gehen über das Gehen, über sein Leben, seinen Lebensweg philosophiert und Leute trifft und schleift und sich unterhält mit Passanten aus einer längst vergangenen Zeit und weiterzieht und müde wird und trotzdem nicht aufhört, dem ihn begleitenden Autorenpaar das Mikrofon zu bespielen. Eine Stimme, die man nicht so schnell vergisst, ausgezeichnet aufgenommen. Wollt ihr das bitte auch mal hören, ich bin gespannt, wie ihr es findet.“

So war der erste Höreindruck. Manchmal ist es nur ein kleines Detail, ein kurzer Moment in einem Original-Ton, in der Stimme und Stimmung eines Protagonisten, die unsere Aufmerksamkeit augenblicklich aufsaugt und uns zu Hörern macht. In diesem Fall liegt diese Stelle schon bei Minute 1’05 und hat mich damit schon sehr früh an das Stück und an diesen Mann gebunden, den wir eine volle Stunde begleiten. Im Hintergrund hören wir Straßenatmo, die Bimmelglocke des Scherenschleifers und ihn selbst im O-Ton: „Dieser Weg … mein Jahrzehnte langer Weg hier … zur Arbeit …“ . Wie so oft im Radio, ist mit einem verschriftlichten Zitat noch nicht viel gesagt, die Stelle will eben gehört werden, in der Stimme dieses müden alten Mannes.

Andreas Schroth und Gabriele Thaler haben ihn auf der Straße begleitet und aufgenommen. Diese bewegten, durch die wechselnden Straßen, Höfe und Hinterhöfe sehr lebendigen Aufnahmen kontrastieren sie wirksam mit ruhigen Gesprächs-Aufnahmen im geschlossenen Raum. So wechseln sich Szene und Reflexion, Handeln und Erzählen wunderbar ab. Wir bekommen vielschichtige Perspektiven auf diesen Mann und durch ein Gespräch mit dem Regisseur des Stückes, Götz Naleppa, auch einen Eindruck davon, wie Anfang der 80er Jahre im deutschen Rundfunk (in diesem Fall im RIAS Berlin) mit Originalton gearbeitet wurde:

„So war es eben damals… Wir haben versucht, die sogenannte Wirklichkeit, was auch auch immer das ist, über die Originalton-Hörspiele stärker ins Hörspiel reinzuholen.“
Es war eine Kollektivarbeit … Letztlich sind das fließende Übergänge zwischen Autorenschaft und Regie … Da hat nicht ein Regisseur eine Form bestimmt, sondern da wurde ein Vor-Einverständnis erzielt mit den Autoren. Und man geht eben mit. Man sitzt nicht in der Redaktion, sondern man geht mit raus und man war damals überhaupt viel draußen in den Straßen von Berlin oder wo eben dann aufgenommen wurde. Dadurch war man nicht nur im Schneideraum zusammen und hat jeden Schnitt gemeinsam entschieden.“

„Sozusagen denen, die keine Stimme haben in der Öffentlichkeit, eine Stimme zu geben.Authentizität – anderen eine Stimme geben Und die Leute ausreden lassen.Sprechweisen – Ausreden lassen Der Mensch, der spricht, steht im Vordergund, nicht ein fragender Journalist, der Gesagtes auf Aussage hin zerschneidet. Versprecher und Zögerer wurden drin gelassen, denn darin steckt eine Aussage über die emotionale Situation, in der sich ein Mensch befindet … Und manchmal sogar, was geradzu vermieden wird heutzutage: dass man die Stellen, an denen geschnitten wurde, nicht überblendet und vertuscht, sondern geradezu markiert: Hier ist manipuliert worden, hier hat man eingegriffen in das aufgenommenen Original.“Machart & Erzählstrategien – markierte Schnitte

„Wenn ich es aus dem Abstand höre, denke ich, manche Sachen sind vielleicht ein bißchen zu ideologiebelastet gewesen, bißchen zu lang auch. Wir haben eben wenig kritische Distanz zu den Produkten gehabt, aber das hat man ja immer, wenn man verliebt ist.“

Giuseppe Maio

Unsere Reaktionen

Zwei Dinge hat dieses Stück, die heutige Produktionen nicht haben: es reicht historisch weiter zurück – ein Zeitzeuge des Wilhelminismus – und der Sound – ein dynamisches Reportermikrofon? – hat eine Grobkörnigkeit, die mit dem Typ, der da spricht, ideal korrespondiert.

Oral history. Gute Aufnahmen. Man ist mit ihm in Berlin unterwegs. Gut geschnitten.“

„Hatte erst überhaupt keine Lust auf noch einen Ein-Mann-Monolog und noch ein aussterbendes Handwerk.“

Dieser alte anarchistische Pazifist mit dem schweren Leben, der immer in die Hinterhöfe pfeift und seine Sätze so merkwürdig ausstößt (asthmatisch? militärisch? wie eine Dampfmaschine?), der offensichtlich schon viel geredet hat in seinem Leben – ich habe ihm gerne zugehört.

Gespräch mit Götz Naleppa, dem Regisseur dieses Stücks

 

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Stichwörter:

Scherenschleifer; Westberlin; Auf der Straße; Arbeitswelt; Handwerk

 

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