Ende der Anfrage

von Christian Geissler

Regie: Hans Otto Müller
Mit: Ursula Jockeit, Dietlind Macher, Gudrun Nierich, Hanns Otto Ball, Hans Brenner
Produktion: SWF 1965
Länge: 39'28

Wie tief sitzt der Nazi-Geist in den Köpfen ganz normaler Leute? Ein schroffes, radikales Feature.

Eine Zeitungsmeldung von einer SS-“Mörderschule“ im österreichischen Schloss Hartheim veranlasst den Autor, vor Ort nach Spuren der Verbrechen und nach Nachwirkungen in der Gesinnung der Bevölkerung zu suchen. Fündig wird er schon vor der Ankunft: von der Schalterbeamtin an der Bahn, die vor dem „Pack“ der Gastarbeiter im Zug warnt, über die Reisenden der ersten Klasse in eben diesem Zug mit ihrem reaktionären Gerede bis zu den Familien in den Wohnungen, die heute in dem ehemaligen Euthanasie- und Exekutionslager leben – alle dumpf, ausweichend im Hinblick auf die Vergangenheit, reaktionär. Alle Rand- und Nebenfiguren erzählen unfreiwillig von dem Thema der Reise.

Der Autor hat kein Mikrofon dabei und er gibt vor, Nachforschungen über seinem Bruder, der dort bei der SS gewesen sein soll, anzustellen – denn er will das Vertrauen der Leute gewinnen und sie dazu bringen, sich durch ihr Reden selbst zu entlarven. Sprechen lässt er sie dann in nachgestellten Studioszenen von einem großen Ensemble von Dialektsprechern in Kleinstrollen. Das hört sich heute kurios an, ist aber gar nicht schlecht gemacht. Ein frühes Beispiel für Undercover-Journalismus also.

Die Produktion, die tatsächlich 1965 beim damaligen Südwestfunk stattgefunden hatte, wurde vom Programmdirektor Günter Gaus kurzfristig abgesetzt. Auf dem Band, das wohlverwahrt im Archiv steht, ist folgendes Vorwort zu hören:

„[…] In ,Ende der Anfrage‘ werden die Erfahrungen einer Reise beschrieben, die der Autor auf eine Agenturmeldung hin nach Oberösterreich machte. Die Gespräche, die er wiedergibt, haben stattgefunden.“ […]
Der Journalist Günter Gaus wurde hellhörig bei der Beteuerung, daß die wiedergegebenen Gespräche stattgefunden hätten, daß der Bericht auf Tatsachen beruhe. Warum bekam er dann aber keine O-Töne zu hören, sondern Hörspiel-Dialoge […]. Für die journalistische Todsünde, statt wörtlicher Zitate den authentischen, identifizierbaren Zeitgenossen realistische Dialoge in den Mund gelegt zu haben, gab es keine Absolution.
Der damalige SWF-Hörspielredakteur Hermann Naber, zitiert nach:
Jan Decker: Ahlers und die anderen. Christian Geisslers Hörspielwerk. 2016. S. 17.
Der Text enthält auf S. 16-18 eine lesenswerte Besprechung von “Ende der Anfrage”: Ahlers und die anderen

Der Autor zieht fundamentale Konsequenzen aus dem Verhalten der Leute. Nicht der Nationalsozialismus hat die Leute verdorben, sagt er, die Verdorbenheit ist tiefer und älter.

Die Publikationsgeschichte von „Ende der Anfrage“ ist kompliziert, beauftragt wurde es als Reportage von der Zeitschrift Stern, aber nicht gedruckt, produziert für den SWF, aber nicht gesendet, dann als Text gedruckt in den „Werkheften katholischer Laien“, später in seinem Sammelband „Plage gegen den Stein“ und schließlich 1966 nochmals inszeniert für das Fernsehen der DDR. Insofern ist „Ende der Anfrage“ ein Außenseiter im bundesdeutschen Feature und eher Beleg dafür, was Feature noch hätte sein können. Zugleich faszinieren die feinen, sprechenden Beobachtungen: pars pro toto sei eine der Familien genannt, die jetzt im Schloss wohnt. Auf die Frage, was hier im Krieg gewesen sei, bekommt der Autor die Tür zugeschlagen. Hätte er sie auf die Sternsingerzeichen am Hauseingang angesprochen, hätte er sicher eine weniger abweisende Reaktion bekommen. „Gute Kenntnis von magischen Zeichen und schlechte Kenntnis von der Realität“ kommentiert der ehemalige Katholik Geissler. Haltung, Beobachtung, Sprache – alles Tugenden eines guten Features, und über allem steht die Dringlichkeit, die das Stück bis heute ausstrahlt.

Es sei aber auch nicht verhehlt, dass das Stück in mir eine Rezeptionshaltung auslöst, die ich im ersten Moment bleierne Schwere nenne – bis eine meiner Mitstreiterinnen fragt, ob ich damit das Stück nicht abwerte. ‘Bleiern’ – ich habe unbewusst auf den Filmtitel von Margarathe von Trotta angespielt, der seinerseits auf ein Hölderlinzitat zurückgeht und die Enge, die Ungelöstheit, das klaustrophobische Schweigen in den 50er Jahren meint. Das passt perfekt: eben diese bleierne Zeit ist der Gegenstand des Features. Und das Gefühl, ihr notfalls mit radikalem Mitteln entkommen zu müssen, teilt sich im Titel mit: Ende der Anfrage, auf dem bisherigen Weg kommen wir nicht weiter. Bleiern ist also das Sujet – aber auch die Haltung des Autors ist das Gegenteil von leichtgewichtig oder konziliant. Er macht keine Anstrengungen, seine Haltung pädagogisch zu vermitteln. Sein Widerstand gegen falsche Idyllen spiegelt sich – ganz anders als noch bei Peter von Zahn – in einem unversöhnlichen Ton. Auch auf akustische Zutaten, die das Stück irgendwie gefällig oder verdaulich machen könnten, wird verzichtet. Vor allem aber: Geissler ahnt, ja weiß eigentlich schon bei Antritt der Reise, was er vorfinden wird. Und es bestätigt sich dann auch, es gibt keine überraschende Wende, die Schlinge zieht sich immer weiter zu, es wird immer noch weiter verdrängt, reaktionär geredet, verschwiegen; der Erzählbogen besteht darin, dass das anfangs Vermutete sich in immer neuen Details bestätigt. Da hat sich etwas festgefahren, und das steht dem heutigen Trend nach Spannungsdramaturgie und überraschenden Wendungen entgegen. “Ende der Anfrage” ist auch insofern wörtlich zu nehmen, als Geissler danach keine Features mehr gemacht hat und sich ganz dem Hörspiel und darin zunehmend dem poetisch-verrätselten Wortspiel zuwandte. Vielleicht fand er hier eine Möglichkeit, den politischen Ernst zu behalten und trotzdem der bleiernen Schwere zu entkommen.

Ingo Kottkamp

Biografie

Christian Geissler, 1928-2008, Schriftsteller, Hörspielautor, Dokumentarfilmer, Kommunist. Geboren in Hamburg, der Vater Nationalsozialist, der im 2. Weltkrieg fiel, die Mutter aus Polen. 1949 bis 1953 Studium der evangelischen Theologie, 1953 Konversion zum Katholizismus, 1962 Austritt aus der Kirche, 1962-1968 Mitglied im Kuratorium der Kampagne für Abrüstung und Ostermarsch, 1967-68 Mitglied der KPD bis zu deren Umwandlung in die DKP, 1973 im Hamburger Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD, in den 80er Jahren der antiimperialistischen Linken nahestehend. Diese Stationen sind Ausdruck eines lebenslangen Engagements, das von seinem künstlerischen Schaffen untrennbar war. Immer ging es um die Frage nach der Verantwortung für Verbrechen und Möglichkeiten des Widerstandes, oft entzündet an, aber nicht beschränkt auf die Judenverfolgung durch die Nationalsozialisten. Zur Kritik an bestehenden Verhältnissen gehörte auch die Kritik an der bestehenden Sprache, die sich in einem zunehmend experimentellen Werk niederschlug.
Mehr über Christian Geissler in dieser ausführlichen Biographie.

Ausgewählte Radiostücke

„Eine alte Frau geht nach Hause“, Funkerzählung, WDR 1956
„Die Kinder von Gallatin“ Hörspiel, WDR 1957
„Jahrestag eines Mordes“ Hörspiel, SWF 1968
„Verständigungsschwierigkeiten“ Hörspiel, SWF 1969
„Unser Boot nach Bir Ould Brini“ Hörspiel, SWF 1993
„Taxi Trancoso“, Hörspiel, SWF 1993
„Walkman Weiß Arschloch Eins A – Hörspiel aus meinem Dorf“, SWF 1994
„Wanderwörter“, Hörspiel, SWR 2001
„Ohren Aufbohren. Monolog der Schurkenfrau“, Hörspiel, SWR 2011

 

Stichwörter:

Nationalsozialismus; Euthanasie; Verdrängung

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