Der dicke Lipinski
von Sieglinde Scholz-AmoulongRegie: die Autorin
Ton: Wolfgang Masthoff
Produktion: Rundfunk der DDR 1989
Länge: 51’05
Bild eines sterbenden Staates: Hans Lipinski arbeitet im Braunkohle-Kraftwerk Jänschwalde. Sein Porträt soll zum 40. Jahrestag der DDR im Oktober 1989 gesendet werden. Das war der Plan.
„Der dicke Lipinski“ gehört zu den seltenen Stücken, bei denen „unterwegs“ etwas passiert, das den ursprünglichen Plan komplett über den Haufen wirft, ohne dass das Projekt aufgegeben wird. Dass das möglich war, hängt mit der Arbeitsweise der Autorin zusammen. Sieglinde Scholz-Amoulong gehörte zu den vier fest angestellten Autoren in der Feature-Abteilung des DDR-Hörfunks. Sie sagt, dass es zwar Absprachen in der Redaktion über die Auswahl der Themen gab, dass sie danach aber frei arbeiten konnte. Sie ist nie mit dem Ü-Wagen zu Interviews gefahren, alles lag in ihrer Hand: Aufnahme, Schnitt, Regie.
„Ich mach nur Feature, wenn ichs von der Idee, von den Aufnahmen bis zur Produktion im Studio selber mache. Ich hab nichts aus der Hand gegeben, mein ganzes Material hab ich immer behalten und keiner konnte mir reinreden, außer am Ende – wenn die Vorführung war, unter den Kollegen, dann konnte irgendwie Kritik geübt werden“ (siehe audio 3).
Autoren-Feature nannte man das im Westen. Es war nicht der Standardfall in der Nalepastraße.
Dass am 9. November die Mauer fallen würde, wussten nachträglich nur die Allerschlausten. Aber dass die DDR in einer Krise steckte und der ganze Ostblock in Bewegung war, konnte jeder täglich in den Nachrichten erfahren. Für eine Feature-Autorin bedeutete das im Sommer 1989, dass ihr Material unter der Hand zu vibrieren begann. Die historische Skalierung stimmte nicht mehr. Jede aufgenommene Szene, jedes Interview geriet in einen ständig sich ändernden Kontext. Aber Sieglinde Scholz-Amoulong steckte ihr Projekt nicht in die Schublade, sondern macht die historische Erschütterung zum dramaturgischen Motor.
Sie schreibt ein Vorwort von 1’30, das sich wie ein Filter über das ganze Stück legt. Dann stellt sie den Protagonisten vor. Nach etwa 5’ spricht Hans Lipinski über den kurzfristig abgesagten Besuch Erich Honeckers im Werk, er sagt, das sei eine Enttäuschung und dass das Zentralkomitee wohl seine Gründe haben werde. Bei 8’30 lässt die Autorin ihren „Held der Arbeit“ sehr lange knisternd auf seinem Schreibtisch rumsuchen, bis er schließlich etwas findet, das man nicht oben herumliegen lässt. Es ist ein satirisches Gedicht mit dem Tenor: die ganze DDR rackert sich ab, damit die Hauptstadt glänzen kann. Refrain: „wir geben alles für Berlin“. Dem Protagonisten ist es offensichtlich ein Bedürfnis, alle Strophen vorzutragen.
Man kann davon ausgehen, dass die Autorin lebhafte Aufnahmen vom Besuch Honeckers im Werk und auf den Straßen der Stadt Cottbus eingeplant hatte. Man kann ebenfalls davon ausgehen, dass sie diese zusammen mit den Interviews von Hans Lipinski zu einem dichten Bericht zusammengefügt hätte. Womöglich kritisch, womöglich auf aktuelle Probleme der DDR eingehend, sicher aber mit dem souveränen Einsatz des Originalton-Materials, den sie schon bei einer Reihe anderer Stücke gezeigt hatte. Jetzt hat sie eine Leerstelle. Was tut sie? Erstens hat sie Glück: Jemand steckt ihr den detaillierten Ablaufplan des geplatzten Besuchs zu. Zweitens greift sie zu und macht den glücklichen Fang zum Zentrum des Stücks, eine geniale Lösung. Sie besorgt sich Marschmusik aus dem Archiv und verliest den Ablaufplan. Über sechs Minuten lang! Das ist eine Ewigkeit im Radio. Da wir aber ja wissen, dass Honecker gar nicht kommt, klingt die Marschmusik plötzlich besonders blechern. Die jubelnden Werktätigen, die aufgebaute Ehrentribüne, das Kampfgruppenorchester von Bad Liebenwerda, die sorbischen Schülerinnen, die Spalierbildung im Werk, die Spalierbildung vor dem Werk, die Spalierbildung in der Stadt mit exakt angegebenen 2000 oder 5000 oder 20.000 Menschen – wohlgemerkt: so alles im Plan vorgesehen – die ganze organisierte Zustimmung, die uns da vorgelesen wird, klingt verzerrt.
Zum Zeitpunkt der Ausstrahlung im Januar 1990 ist Erich Honecker längst abgesetzt und der Staat befindet sich in Auflösung.
Marianne Weil
Gespräch mit Sieglinde Scholz-Amoulong am 20.7.2018
1. Jänschwalde
Ich war in Jänschwalde, weil mich überhaupt Technik und solche Baustellen haben mich interessiert. Und dann hab ich verschiedene Bereiche da in Jänschwalde kennengelernt und unter anderem war ich auch bei den – bei denen, die dieses ähm – der verantwortlich für den Blockbau war und da sollte ein Block in Betrieb gehen zum Jahrestag der DDR und da hab ich dann so Versammlungen erlebt, wo der dicke Lipinski sich derartig aufgeregt hat und geschimpft hat und seine Leute zusammengedonnert hat, und da hab ich gedacht ooaaah, das issen toller Mann, mit dem musste mal bisschen näher zusammenkommen, ja, und da hab ich ihn angesprochen und da ich da in Jänschwalde schon einen Namen irgendwie hatte, hab ich auch keine Schwierigkeiten gehabt, mit den Leuten ins Gespräch zu kommen, weil die wussten, wenn einer kommt ausm Rundfunk, dann kann das kein Spion sein, der kann nichts Negatives bringen, sondern das hat alles schon seine Ordnung, deshalb hatten die auch keine Angst vor mir, so, ne.
2. Schere im Kopf
Ich hatte von meiner Redaktion ein großes Vertrauen – ich konnte eigentlich machen, was ich wollte, so kann man das sagen – ich hätte nicht sagen können, Erich Honecker ist Scheiße oder so was, dann wäre meine Feature-Karriere da auch zu Ende gewesen, aber eigentlich, da ja alle wussten, es wird am Ende immer noch mal irgendwie kontrolliert – ich hab zwar immer behauptet, so um die Wende rum, ich hab keine Schere im Kopf, aber ich hatte natürlich eine Schere im Kopf – was hat die so alles abgeschnitten? – naja, zum Beispiel, wenn ich gesehen habe, dass bei diesem Block da irgendwie Öl, ich sag jetzt mal Öl, ich weiß nicht mehr, was es war, da wurde irgendwas entsorgt, was nicht hätte entsorgt werden dürfen, dann wurde wieder irgendwas reingefüllt – ich muss es jetzt so sagen, weil ich weiß es einfach nicht mehr so genau – das warn so Dinge, die durfte man, wenn man Vertrauen hatte, wissen, aber, es durfte, weil der Block ja unbedingt fertig werden sollte, wurde da manchmal gepanscht und gemischt und gemacht und ich stand da und hatte die Hände überm Kopf zusammengeschlagen und dachte o Gott, eigentlich müsste man darüber jetzt was machen, weil es geht doch alles nicht so – ja, und insofern hab ich dann auch ne Schere im Kopf gehabt.
3. Mein Anliegen war
Ich habe acht oder zehn Jahre Feature gemacht und mein Anliegen war eigentlich immer, die Leute so zu zeigen, in ihrer Arbeit, in ihrem Kampf – sag ich jetzt mal – um den Sozialismus, in dem sie ja gearbeitet haben, und da wollten wir ja was, ich wollte das auch, wollte ich sie so zeigen und hab da ganz vieles auch – ja, ich hatte son bisschen den Freifahrtschein, weil – also mit meinen Featuren sind meine Chefs immer zum Prix Futura oder Prix Italia und so gefahren, ich durfte nicht, ich war kein Reisekader, und aus dem Grund hatte ich son Freifahrtschein, die wussten, mit meinen Sachen können sie immer was anfangen – letzten Endes, wenn was herausgeschnitten werden müsste, dann muss ich dem zustimmen – ich hab auch gesagt, ich mach nur Feature, wenn ichs von der Idee, von den Aufnahmen bis zur Produktion im Studio selber mache. Ich hab nichts aus der Hand gegeben, mein ganzes Material hab ich immer behalten und keiner konnte mir reinreden, außer am Ende – wenn die Vorführung war, unter den Kollegen, dann konnte irgendwie Kritik geübt werden – bei einem Armeefeature kam der General Verner und wollte mich überzeugen, dass da ne Stelle rauskommen sollte, ich hab dem nicht zugestimmt, und dann haben wir da gekämpft – das war mein Anspruch eigentlich im Feature. So.
Aus unserem kollektiven Hörprotokoll
Tolles Zeitdokument, toller Hauptdarsteller und nach Jahrzehnten der Stasi-Thriller endlich mal wieder ein interessanter Blickwinkel auf die Wende.
Sehr gut gefällt mir die Beiläufigkeit des O-Tons. Wie gut das Mikro so nebenbei läuft. Aber in der Machart zeigt es für mich doch einige Schwächen im Aufbau. Die Einbindung der Festreden, sprich die offizielle Seite der DDR in die Lipinski-Perspektive bleibt sperrig, es entsteht kein Spannungsfeld zwischen diesen beiden und am wenigsten dort, wo die Autorin über die Musik versucht, das Unvereinbare zu klammern.
Ja, es bleibt einiges in der Schwebe. Ist das nun ein Stück über einen sterbenden Staat? Über einen alternden Mann? Sein verbales Rumeiern korrespondiert mit dem Raumeiern von Günter Mielke – eine sprechende Parallele.
Biografie
Sieglinde Scholz-Amoulong, geboren 1945 in Friedland bei Breslau, lernte Chemielaborantin, studierte Schauspiel an der Filmhochschule Babelsberg, hatte danach ein Theaterengagement in Brandenburg. Ab 1981 war sie fest angestellte Autorin und Regisseurin im Rundfunk der DDR. In dieser Zeit enstanden zahlreiche Stücke, darunter: „Diagnose: Dringender Kinderwunsch“ (1980) und „Die Besteigung einer grossen Windpfeife“ (1983). Das Feature „Frau Tussi“ über eine Werkleiterin im VEB Treffmodelle (1986) wurde ausgezeichnet mit dem Kunstpreis des FDGB. Das Porträt einer Kleinstadt „Die Leute von Ummerstadt“ (1986) erhielt eine Lobende Erwähnung beim Prix Italia. In den 1990er Jahren arbeitete Scholz-Amoulong freiberuflich für den ARD-Hörfunk und Deutschlandradio: „Was ist hier Schuld und was ist hier Sühne? Ein Kriminalfall“ (SFB 1993, ausgezeichnet mit dem Goldenen Kabel); „Ich bin ein misslungenes Lehrerkind. Die Geschichte einer Sucht“ (DLR Berlin, 2003).
Stichwörter:
DDR; Sozialismus; Maueröffnung