Ach, wär die Welt doch ganz vertuppert
von Walter FilzAch, wär die Welt doch ganz vertuppert. Von der utopischen Kraft der Frischhaltung
Regie: Walter Filz
Mit: Josephine Larson, Martina Müller-Wallraf, Hans-Joachim Thieme,
Thomas Vogt, Manfred Wagner und Walter Filz
Produktion: DS-Kultur/ORB 1993
Länge: 54'37
Ein Feature über Tupperware? Eine Sendung über Kunststoffproduktion? Ein Stück über Mozart? Ganz sicher ein Feature, in dem keine heilige Kuh des Featuremachens ungeschlachtet bleibt.
Üblich ist das nicht
Als ich das erste mal dieses Tupperstück gehört habe, war ich überrumpelt von so viel Witz und Respektlosigkeit. Wie frech war denn das, ein eher schwieriges Thema wie die Produktion von Kunststoffen gleich an den Anfang zu setzen und innerhalb von noch nicht einer Sekunde zu konterkarieren! Da sagt eine männliche Stimme „Polymerisation“, aber das Wort wird vernuschelt. Normalerweise würde das rausgeschnitten, aber hier nicht. Die Stimme spricht weiter über chemische Vorgänge und molekulare Verbindungen, unter allem spielt klassische Musik, dann kommt der Verweis auf die griechische Vorsilbe „Poly“. Zack. Schnitt. Man hört das zwitschernde Geräusch eines Tonbands im Schnelllauf. Und so ist innerhalb von 20 Sekunden klar, dass es irgendwie um einen chemischen Prozess geht, aber nicht ernsthaft.
Üblich ist das nicht.
Eine zweite Männerstimme tritt auf, ohne Musik, spricht in ein Diktaphon, ruhig, fast behäbig im Gegensatz zum hastigen Sprechen des Fachmanns für Kunststoffproduktion – irgendwann merkt man, es ist der Autor. Er bringt neue Wörter ins Spiel, spricht über Wissen, rituelle Vorgänge und Überlieferung. Kein Satz wird zu Ende gebracht, in jedes wichtige Wort wird hineingeschnitten, aber genau so, dass man es gerade noch versteht, dass man “ritu …” zu “Ritual” ergänzt oder “Überlie …” zu “Überlieferung”.
Üblich ist das nicht.
Unser Ohr ist jetzt auf schnell getaktete Wechsel eingestellt. Die zwei Männerstimmen sprechen knapp drei Minuten abwechselnd über Kunststoffe, Haushalt, Küche und etwas vielleicht Größeres namens Utopie. Die Musik – wobei man nicht wissen muss, dass es sich um Mozarts Zauberflöte handelt – signalisiert, dass es um mehr als Klamauk geht. Dann kommt der erste O-Ton. Frauenstimmen mit rheinischer Färbung sprechen über Tupperdosen, nur unterbrochen durch einen fröhlichen Werbesong für Tupperware. Es geht um runde Behälter, eckige Behälter und die Tatsache, dass darin alles frisch bleibt. Die Stimmen sind unbeschädigt, ganz normale O-Töne halt. Dann folgt der nächste Tabubruch. Der Autor sagt den Ort der Aufnahme an, Datum, Uhrzeit, Couchtisch, Zahl der Anwesenden und sagt dann: „Besondere Bemerkungen: Die Beraterin freut sich, dass wir hier noch mal in Marmagen sind.“ Darauf folgt der O-Ton der Beraterin: „Ich freue mich, dass wir noch mal hier in Marmagen sind.“ Krass! Walter Filz übernimmt das, was die Leute ihm ins Mikrofon sagen, in seinen Autorentext und lässt sie es dann „nachsprechen“. Er macht die Interviewten zum Papagei des Autors. Wie respektlos ist denn das! Aber lustig fand ich es auch. Und offen gestanden halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass die Damen von den Tupperpartys auch gelacht haben, als sie das hörten.
Aber üblich ist das wirklich nicht.
Hier gibt es kein storytelling
Als ich das Stück jetzt viele Jahre später erneut hörte, überraschten mich vor allem die vielen Wiederholungen. Zum Beispiel die Sache mit dem Diktaphon. Immer wieder diese Klangfarbe und dieser Stil. Der Autor mit der Lizenz zum Sprechen platziert sich auf der Hörbühne. Er hat sogar mehr zu sagen als nur Wörter, er sagt auch, wo das Komma hinkommt, ein Absatz oder ein Punkt. Was natürlich Quatsch ist im Radio und schon wieder ein Witz. Zum ersten Mal ist meines Wissens dieser Trick mit dem Diktaphon im Jahr 1970 angewendet worden. „8 Uhr 15, OP III, Hüftplastik“ heißt das Feature von Peter Leonhard Braun, der damals das Ideal der sich selbst erzählenden Geschichte im Kopf hatte – bestehend aus 100 Prozent O-Ton. Braun inszenierte den ins Diktaphon protokollierenden Chirurgen als in der Szene verankerte Erzählerfigur. Der Autor Braun wollte hinter seinem akustischen Material verschwinden. Der Autor Filz will, dass man ihn deutlich sieht. Beziehungsweise hört.
(Autor)
- November, Band eins, Aufnahmezeit 20 Uhr, Aufnahmeort Marmagen bei Euskirchen Nähe Bonn, Einfamilienhaus, Wohnküche, Sitzgruppe, Aufnahmesituation: Sitze zusammen mit ca. 10-12 Frauen, 20-60 Jahre alt, vor Kieferncouchtisch, Stimmung aufgeräumt, Aufnahmebedingungen normal, besondere Bemerkungen …
Wer so aufwändig die Umstände seiner Tonaufnahmen inszeniert, ist kein Illusionist. Er will das Publikum nicht in eine Geschichte hineingeziehen oder von einer spannenden Dramaturgie fesseln. Hier gibt es keine Protagonisten oder Konflikte und keine Entwicklung. Protagonist ist der Autor, der sich einem Phänomen zuwendet und seine Assoziationen spielen lässt. Der Autor agiert als Ethnologe, für den die ganz hohe Hochkultur und die zivilisatorischen Alltagsprodukte auf einer Ebene liegen. Unter den unzähligen Produkten der westlichen Warenwelt – Fernseher, Autos, Klamotten, Neckermannreisen, Lippenstifte, Schleifmaschinen – wählt er ein Produkt aus den Tiefen des Kühlschranks, ein Phänomen ohne Geschmack und ohne Geruch, aber beliebig aufladbar. Er kontrastiert es mit der Musik von Mozart: Zauberflöte und Tupperdosen – eine spannungsreiche, keineswegs naheliegende Beziehung bahnt sich da an.
Im Verlauf des Stückes spinnt der Autor ein Netzwerk an Verweisen und Bezügen von der Erfindung des Kunststoffs in den 1940ern bis in die Jahre der Nachwendezeit der 1990er, in der das Stück entstanden ist. Er besucht die egalitäre Welt der Tupperparties, die millionenfach und weltweit stattfinden. Er verliest die wunderbaren deutschen Namen der Dosen und Kannen, die Goldquell, Julchen, Heinerle, Salabim oder Rumpelstilzchen heißen. Dass Walter Filz die Geschichte von Earl S. Tupper als Märchen erzählt, mag damit zusammenhängen, dass er gerade über Märchenmotive in der zeitgenössischen Literatur promoviert hat. „Es war einmal in Amerika ein Chemiker … der arbeitete und forschte und forschte und arbeitete … und wenn die Tupperware nicht kaputt gegangen ist, dann steht sie noch heute im Schrank.” Aber unabhängig von diesem akademischen Hintergrund bietet das Märchen eine Erfählform mit griffigen Elementen und wiederholbaren Refrains, die zu dem mäandernden Erzählspaß rund um das ausgewählte Objekt der Forschung passt. Nichts ist zwingend, alles in Bewegung, man kann ein- und aussteigen wie bei einem Gesellschaftstanz.
Parallelaktion zwischen der Welt der Tupperparties und der Freimaurer
„Ach wär die Welt doch ganz vertuppert“ ist durch und durch musikalisch gebaut. Nicht weil Musik verwendet wird, sondern weil es wie Musik funktioniert: rhythmisch, mehrstimmig, mit Reprisen, Variationen, Kontrapunkten. Aber der eigentliche Knüller ist die Tatsache, dass die Zauberfköte den Status eines Akteurs erhält. Sie ist der dramaturgische Kontrapunkt zum sprachlich definierten Thema. Dass Mozart Mitglied der Wiener Freimaurerloge war, muss man nicht wissen, die Freimaurer kommen in der Zauberflöte gar nicht vor. Aber Walter Filz führt die Freimaurer in sein Radiostück ein. Ganz am Anfang noch undurchsichtig milchig durch hingetupfte Wörter wie geheimes Wissen oder Ritual, am Ende aber direkt. Er stellt die steile These auf: dass Tupperparties das weibliche Gegenstück zu den männlichen Logentreffen der Freimaurer sind. Die egalitären Tupperparties der Frauen und die elitären Geheimbünde der Mäner werden zusammengezwungen dass die Funken sprühen.
Die Musik der Zauberflöte und die Welt der Tupperdosen bilden eine Art Parallelaktion. Angelegt als eine Art Versuchsanordnung. Kunststoffe, Buttermilch, Ratespiele und Röstzwiebeln werden ständig aufgewertet und umgedeutet durch das klassische Opernorchester. Die Fallhöhe ist groß, die Spiellust ebenso wie das waghalsige Tänzeln zwichen den Welten. Und genau an der Stelle, wo die Engführung zwischen Tupperparties und Geheimlogen stattfindet, bei Minute 43’ bleibt dann der Gegensatz unaufgelöst. Eine männliche Stimme sagt: „Das Geheimnis der Freimaurerei ist im Endeffekt darin zu finden, dass es ein Erlebnis ist, aufgenommen zu werden” und die Vertreterin der Tupperwelt sagt das Gegenteil: „Man hat keine Voraussetzungen, man muss einfach Hausfrau sein”. Ein Witz im Witz.
Am Ende übrigens steigt der Autor höflich von seiner Diktaphon-Bühne herunter und spricht mit den Leuten, genauer: zeigt sich mit den Leuten sprechend. Jetzt sind sie eindeutig nicht mehr die Papageien des Autorentextes. „Sie hätten ja auch eine Frau schicken können.“ Eine Veranstalterin fragt vorsichtig, ob er denn ein „Reporter“ sei und Walter Filz stimmt dem ebenso vorsichtig zu, was er im echten Leben niemals tun würde. Auch sehr lustig.
Marianne Weil
Aus unserer Diskussion:
Wir waren nicht alle gleichermaßen begeistert. Mal war von Selbstverliebtheit die Rede, mal von l’art pour l’art. Hier zwei Ausschnitte aus unserer Diskussion:
„Ich finde nach 20 Minuten wird klar, das Thema ist nicht Tupper, sondern hier geht es allein um die Form selbst, eine verspielte, ironische Collageform, die ihr Sujet loslässt, herauszoomt in die großen Kontexte und je größer die werden, desto absurder (und manchmal witziger) wird es. So wie das Feuilleton manchmal sich selbst feiert, die Sprache an sich feiert.“
„Kühle. Postmoderne. Anti-Authentizität. Ironie. Aber auch: Leidenschaft. Immer noch einen draufgesetzt, immer noch eine Drehung weiter. Erzähllust als Erzählmotor. Ich frage mich, was ‘bleibt’ von solchen Features. Der Erkenntnisgewinn (wie weit sind wir wirklich über die Welt belehrt worden und was geschah mehr der Pointe willen) oder die Brillanz des Montierens, Interpretierens, Umdeutens, deren Stilmittel man benennen kann, die aber so nur Walter Filz hinkriegt?“
Biografie:
Walter Filz, Autor und Kulturjournalist, geboren 1959 in Köln, studierte in Köln und Zürich Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Er promovierte über Elemente des Märchens in der deutschen Literatur der siebziger Jahre. Seit 1983 arbeitet er vor allem für das Radio. Nach 1990 sind mehr als 50 Features und Hörspiele von ihm erschienen. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen „Der Affe zu Köln“ (2010) sowie „Es ist noch Känguruschwanzsuppe da: Die Wahrheit über den Kölner Karneval aufgrund der Beweismittel meines Vaters“ (2018). Ausgezeichnet wurden seine Hörspiele „Resonanz Rosa. Eine Frau hört mehr“ (WDR 1999, Hörspielpreis der Berliner Akademie der Künste) und „Pitcher“ (WDR 2000, Hörspielpreis der Kriegsblinden) sowie die Hörspiele „Spekulation Sommer“ (SWR/NDR 2005) und „Pieta Piëch“ (SWR 2013), die von der Jury der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste jeweils zum „Hörspiel des Monats“ gewählt wurden. Er ist Leiter der Abteilung Radiokunst (Hörspiel und Feature) beim Südwestrundfunk. 2021 wurde er mit dem Axel-Eggebrecht-Preis für sein Gesamtwerk im Bereich Radiofeature ausgezeichnet.
Ausgewählte Stücke:
„Zur Ästhetisierung des Katzenfutters im ausgehenden 20. Jahrhundert“, WDR 1990
„Central Park oder die leere Mitte“, DLR Berlin/WDR 1995
„Master’s Voice – Stimmen aus dem Off“, DLR Berlin 1999
„Resonanz Rosa – Eine Frau hört mehr“, WDR 1999
„Pitcher“, WDR 2000
„Red kein Blech! Oder: die Stimme der Androiden – Eine Roboter-Sprechstunde zwischen Science-Fiction und Wirklichkeit“, DLF 2005
„Pieta Piëch – Dokumentarpassionsspiel“, SWR 2013
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