üblich ist das nicht
Die Stimme spricht weiter über chemische Vorgänge und molekulare Verbindungen, unter allem spielt klassische Musik, dann kommt der Verweis auf die griechische Vorsilbe „Poly“. Zack. Schnitt. Man hört das zwitschernde Geräusch eines Tonbands im Schnelllauf. Und so ist innerhalb von 20 Sekunden klar, dass es irgendwie um einen chemischen Prozess geht, aber nicht ernsthaft.
Üblich ist das nicht.
Anti-Authentizität
„Kühle. Postmoderne. Anti-Authentizität. Ironie. Aber auch: Leidenschaft. Immer noch einen draufgesetzt, immer noch eine Drehung weiter. Erzähllust als Erzählmotor. Ich frage mich, was ‘bleibt’ von solchen Features. Der Erkenntnisgewinn (wie weit sind wir wirklich über die Welt belehrt worden und was geschah mehr der Pointe willen) oder die Brillanz des Montierens, Interpretierens, Umdeutens, deren Stilmittel man benennen kann, die aber so nur Walter Filz hinkriegt?“
artifizielle Authentizität
Er kaperte das Vertrauen des Publikums, imitierte die Form, funktionierte sie um und schlug einen Salto ins Phantastische: artifizielle Authentizität. Eine irre Geschichte mit einem harten politischen Kern. So hat das vor ihm keiner getan. So kann das heute keiner mehr tun, denn das Spiel mit der Echtheit gehört inzwischen zum Repertoire. Und der politische Aspekt von fake und fiction ist heute ein dramatisch anderer.
O-Ton als Fessel
„Für mich war der O-Ton eher eine Fessel“. Ja, der O-Ton dokumentiere die Authentizität dessen, was da erzählt wird, und ja, er sei auch ein Ausweis für die Redlichkeit des Autors. Aber durch Auswahl, Bearbeitung und Schnitt sei die Beweiskraft doch deutlich eingeschränkt, der O-Ton spiegele ja nicht das reale Gespräch eines Interviews wider.
die journalistische Zusicherung: ich war da
Hier liefert der Autor die journalistische Zusicherung: ich war da. Zugleich erklärt er die journalistische Kapitulation: „3000 Menschen in diesem Graben. Ich versuche mir das vorzustellen, es gelingt mir nicht. Ich versuche mir zehn erschossene Menschen vorzustellen, zehn, das kann ich. Hundert, ich habe Mühe. 1000, 3000. Zuviel. Ich kann es mir nicht vorstellen.“
eine Hörspielatmosphäre
Was ist das bloß für ein Trip? Dunkelheit. Beunruhigende Geräusche. Das dünne, schrille Fiepsen der Ratten. Was sind das bloß für Typen? Von den Égoutiers, den Kanalarbeitern von Paris, hören wir Stimmen im O-Ton. Und dann verselbständigen sich ihre Geschichten; ein Jean-Claude erschlägt eine Ratte und will eine andere mit seiner Frau zuhause großziehen. Was ist das für ein verrückter Professor, der mit spitzer Diktion von der Vernichtung der Ratten fabuliert?
Es klingt wie ein Hörspiel. Aber tragende Elemente dieses Radiostücks sind klassisches Feature.
Vom dokumentarischen Material zur literarischen Gestaltung
Er nimmt sich dabei einige Freiheiten. Aus dem Recherchematerial – Gespräche mit den Égoutiers und Lektüre einer historischen Monographie über den rattus norvegicus – formt er Figuren, nennt sie „Jean-Claude“ und „Professor Winkelhofer“ und gibt Ihnen ein eindeutig literarisches Eigenleben. Ein Hörspiel-Feature-Hybrid, aber mit voller Transparenz, denn nirgendwo wird versucht so zu tun, als sei es eindeutig und ausschließlich das jeweils eine oder andere. Zur Ober- und Unterwelt von Paris gesellt sich eine dritte Ebene: die Innenwelt des Autors, die aber auch unsere Innenwelt ist.
wir sind alle Zeugen der Wahrheit
Nach der Einspielung einer Zeugenaussage, die die massenhafte Erschießung von Menschen in einer Grube im Wald geschildert hat, sagt die Stimme am Mikrofon: „Es ist nur vier Jahre her und es besteht nicht der geringste Zweifel daran, dass solches vor sich ging. Denn viele von uns haben es an vielen Stellen gesehen, ich selbst könnte die fürchterliche Wahrheit solcher Szenen beschwören.“
Das Mikrofon schafft eine Bühne
das Mikro verwandelt Wirklichkeit unweigerlich in eine Bühne.
Die Frage nach der Objektivität
Die Frage nach der Objektivität, nach Repräsentanz stellt weder das Feature noch ihre Artverwandte aus dem Blätterwald.
Beide dürfen auf den Zufall vertrauen und wenn das Mikro zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ist, dann beschenkt er den Macher und den späteren Hörer mit solchen Sternstunden- oder Minuten wie in „Jetzt!“ bei Sendeminute 35: eine echte Prototypen-Show: